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Deutsch-schwedisch

Vadstena

Ich bin nun in Vadstena, in Östergötland, am gefrorenen Vätternsee. Es schneit noch immer dicke Flocken, aber die Schweden fahren sehr sicher, kein Problem, auf Eis und Schnee zu fahren. Der Kaffee ist so stark hier, dass ich ihn nicht trinken kann, er ist wie Gift, selbst mit Milch und Zucker. Die Julklappar heissen deswegen so, weil Tomte vor langer Zeit geklopft und die Geschenke dann hineingeschmissen haben soll, deswegen heissen die Geschenke nicht Presenter. Jultomte, der schwedische Weihnachtsmann, kam wahrscheinlich von dem schwedischen Troll, oder von dem lieben schwedischen Vätte, den Jenny Nyström eines Tages mit roten Kleidern gemalt haben soll. Santa Claus oder Nikolaus oder Weihnachtsmann…. Morgen werden wir nach Jönköping fahren. Dorther kommen meine schwedischen Wurzeln. Ich bin gespannt, ob wir das ehemalige Haus meiner Oma finden werden. Vielleicht treffen wir meinen Onkel Otto und meine beiden Cousinen. Mein anderer schwedischer Onkel wohnt in Litauen mit meinem Cousin. Jönköping ist ungefähr 2 Stunden entfernt und liegt schon in Småland, dem vielleicht beruehmtesten Teil Schwedens. Vor ungefähr 2 Monaten war ich in Skåne gewesen mit der Uni Würzburg.

In den beiden unteren Teilen Schwedens, Götaland und Svealand, war ich schon, aber noch nie so richtig in Lappland oder in Norrland allgemein, also dem wunderschönen Norden Schwedens. Umeå ist die Partnerstadt Wuerzburgs, dies sei eine sehr moderne, radikale Stadt im Vergleich zum kleinen konservativen Wuerzburg, obwohl Umeå nur 80 000 Einwohner hat. Kein Wunder, dass es fuer Hanna und die anderen schwedischen Erasmus-Studenten und schwedischen Germanisten ein ‘Schock’ war in Wuerzburg. Ich habe einige gute Gespräche gefuehrt mit meinen neuen Freunden hier, an zwei erinnere ich mich besonders, einmal in einem kleinen Coffeehaus in Stockholm, kurz bevor wir nach Norrköping fuhren mit dem Zug, und eines nachts am Fluss von Norrköping, dem Mutala Ström, der von Mutala nach Norrköping fliesst. Die meisten wollen genau wissen, wie mein Erlebnisse waren und denken darueber nach. Ich spuere dann, dass sich die Atmosphäre ändert. Manchmal aber werden Gespräche auch schwer und nehmen eine wilde Wendung. Obwohl ich meist nur einen Bruchteil sage und so vorsichtig ich kann, passiert es doch, dass Menschen im Innersten getroffen sind, vor allem dann, wenn ich ueber mich berichte und dem, was ich gelernt habe. Sie weinen dann manchmal, und ich muss sie umarmen und beruhigen und kann vieles Gefuehl nachvollziehen. Ich habe dabei vor allem ein Herz fuer Kuenstlerinnen und Kämpferinnen, aber auch fuer Kuenstler und Kämpfer.
Der Mutala Ström in Norrköping ist wunderschön gelegen und war von schneebedeckten Bäumen und schweren, vereisten Ästen umgeben; er floss halb erfroren langsam dahin, in den Weihnachtslichtern der Stadt, etwas kleiner als Wuerzburg, badend, mit schwarzen Enten hier und da, und der Weg in tiefem Schnee fuehrte an Lauben und Ausruheplätzen vorbei. Der grosse Göta Kanal fliesst ausserhalb nach Göteborg. Man kann segeln von Stockholm nach Göteborg wegen dem von Baltzar von Platen gegrabenen Kanal und kreuzt den zweitgrössten See, den Vättern, eventuell auch den grössten, den Vänern. In Göteborg war ich noch nie. In Norrköping liegen Teile der Universität von Linköping. Wir besuchten das Arbeitsmuseum von Norrköping; es war sehr interessant zu sehen, wie sich Schweden aus Zeiten der Armut der 30er Jahre zu solch einem schönen Land entwickelt hat. Vor allem die Entwicklung der Frau, ihre Leistungen und Erfindungen wurden gewuerdigt und gelobt. Das tut mir gut. Ich leide noch immer mit der Geschichte der Frau auf dieser Welt. Ein Teil des Museums zeigte auch Fotographie in Suedafrika. Kunst macht Augen. In der Bibliothek des Arbeitsmuseums gab es ein braunes Klavier ohne Namen, auf dem ich spielte. Leute kamen aus ihren Zimmern, setzten sich, sassen am Boden und lasen und hörten zu. Ich habe fuer Schweden gespielt. Hanna sagte, sie findet es schön: Wo immer wir hinkommen, wir finden ein Klavier. Sie ist eine Kuenstlerin aus der Kunstschule, sie schneidet Bilder und schreibt und illustriert Kinderbuecher. Dann kam mein erstes schwedisches Gedicht: Så vackert är Sverige.

Nun bin ich schon ueber eine Woche im tiefverschneiten Schweden. Das Wetter ist mild und trocken. Sogar die Sonne scheint manchmal. Ich verstehe immer besser. Schwedisch kommt mir als Sprache und auch in meinem Gehirn vor, als wuerde Deutsch und Englisch miteinander gemischt worden sein in einem Mixer — und heraus kommt Schwedisch. Ich weiss noch, dass sich manche Deutsche frueher ueber mein Sing Sang Deutsch lustig gemacht haben, aber das Sing Sang kommt von meinem Gehör, in dem das Schwedisch meiner Mutter sitzt, deswegen habe ich als fränkisches Kind in Sueddeutschlnad, in Bayern, kein Fränkisches gesprochen. Im Vergleich ist Schwedisch eine sehr singende Sprache. Das war so auffällig, dass alle dachten, ich käme aus dem Norden. Kann man eine schwedische Fränkin sein?

Die beruehmte Klosterkirche in Vadstena hatte einen alten schwarzen Fluegel, auf dem ich spielte. Vor mir stand der grosse Tannenbaum, der geschmueckte Weihnachtsbaum. In Schweden gibt es hauptsächlich Glitter, was ich schöner finde als Lametta. Ich spielte Bach, und durch die hohe Akustik des Klosters der Heiligen Birgitta zogen die Klänge.

Als wir im Zug gesessen waren nach Frankfurt, habe ich einen alten Mann bettelnd gesehen, wie er durch den Zuggang ging. Seine Nase war kaputt, seine Augen rot, er hinkte. Er tat mir so furchtbar leid, dass ich dachte, mir dreht sich der Magen um. Ich nahm Geld und lief ihm hinterher. Seine Unsicherheit konnte ich körperlich fuehlen. Ich gab ihm das Geld in seine grosse, steife Hand. Dann ging ich auf die Toilette und weinte. Ich war unglaublich versucht, ihm mein komplettes Reisegeld zu geben. Warum habe ich es nicht getan? Ich war betäubt von mir selbst und hatte nur den Wunsch, ihn zu umarmen. Es war aber eigentlich nicht das Geld oder Nichtgeld, was mich bewegte, sondern ich dachte, dieser Mann könnte ich sein. Denn Elend ist meist innerlich.

22. Dezember 2009

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Sverige

Nun bin schon vier Tage in Schweden. Es ist eine märchenhafte Kulisse hier, ich bin nun in Norrköping, Berge von Schnee, ich komme mir vor wie in einer weissen Sahara, an einem weissen Strand. Als wir mit dem Flugzeug ueber Stockholm flogen, dachte ich zuerst, da ich muede war und es dunkel, es sei Sand unter mir, warum die Tannenwälder in Sand stehen, bevor ich erkannte, dass es Schnee war. Die weihnachtlichen Lichter der Hauptstadt funkelten uns entgegten. Hanna und ich flogen mit der SAS, da konnte ich auch Meilen sammeln, da die Schwedische Airline mit der Lufthansa kooperiert. In Stockholm fuhren wir dann mit dem beruehmten Arlanda Express in die Innenstadt, in die City.
In Stockholm sind die U-Bahnen so abgeschottet wie in London, aber man kann die Tickets ueber Handy kaufen. Es war unglaublich, meinen roten, in Windeseile gepackten Reisekoffer durch den Schnee zu ziehen. Die Rollen des Koffers weigerten sich. Ich dachte, ich träume, als wir aus der U-Bahn auf die Strassen traten: es war mittlerweile 23 Uhr, die Lichter der Stadt lagen in einem Nebel aus Schneeflocken und Nacht, der Wind bliess uns den Schnee ins Gesicht, links und rechts tuermten sich die Schneeberge, gemischt mit Matsch, Strassendreck und Feuchtigkeit, wir liefen auf der Strasse, da kaum noch Autos fuhren. Ich genoss die Schneeflocken in meinem Gesicht. In Wuerzburg hatte es minus 15 Grad gehabt, als wir losgeflogen sind, es war so kalt in Deutschland wie kaum zuvor, dass mir die Nase einfror auf dem Weg zu meinem Fahrrad, mein Fahrradschloss nicht mehr aufging. Stockholm war nur minus 5 Grad, aber dafuer Schnee ohne Ende. Hanna sagte, so viel Schnee sei Luxus, das sei etwas Besonderes, ich hätte Glueck gehabt. Stockholm oder ganz Suedschweden und Mittelschweden hätten selten so viel Schnee. Auf der anderen Seite liebe ich diese Schneewelt, alles ist in dieses verträumte, ruhige, Geräusche abdeckende Weiss eingetaucht, als wuerde die Stadt den Atem anhalten. Als wir am Ziel ankamen, traf ich auf eine grosse Gruppe junger schwedischer Leute, ab da war es nicht mehr so leicht fuer mich, zu folgen, wenn alle schnell und laut und durcheinander Schwedisch sprechen und lachen. Sprache ist doch fuer mich eine wichtige Sache, ein Geschenk, eine Waffe, ein Schutz. Aber es war auch wichtig, kennenzulernen, wie es ist, ohne diese Sprache zu sein, zuzuhören, ohne Worte und ohne Musik zu sein und doch zu sein. Denn ich bin dennoch Sprache.
Es war eine besondere Gruppe, vegan essende, politisch links orientierte, liberale, teilweise homosexuelle junge Schweden, viele Mädchen feministisch, Tierschuetzerinnen, eher radikal-kuenstlerische, suchende Menschen, gegen Religion und Kirche; ich tauchte ein in eine andere Welt. Es gab gleich eine Kostprobe ihres Essens: brauner Reis mit Kohl, Tofu, Knoblauch, Brokkoli, rote Beete, es schmeckte sehr lecker, etwas scharf. Wasser trinken fast alle hier einfach aus dem Wasserhahn, das ist normal. Viele von diesen jungen Leuten trinken weder Kaffee noch Tee, natuerlich auch keine Milch, essen keinen Käse, keine Butter, sondern alles Soja. Ich dachte, okay, mal sehen, wie das alles so schmeckt.
Ich trinke Berge von Schnee.

Unsere Wohnung im Herzen der Stadt liegt so, dass ich vom Fenster den runden Musikdom sehen konnte, blau angestrahlt, in der Form eines Golfballs, Globen genannt, eines der grössten Stadions fuer Musik und Hockey in Europa, von Schnee und Nebel bedeckt, ähnlich dem Musical Dome in Köln, den ich ja neulich wiedersah (von den Kölnern liebevoll blauer Muellsack genannt), in dem ich leider noch nie war, und den Kölner Weihnachtsmarkt am Dom. Wir gingen spazieren in Gamla Stan, der Altsadt von Stockholm, bis zum Weihnachtsmarkt in Stockholm am Hauptbahnhof. Bei einer Freundin spielte ich Klavier, nachdem wir dort alle zusammen gegessen hatten und es draussen schneite vor den Fenstern. Es war eine wunderschöne Wohnung in der Innenstadt. Zum Schluss spielte ich schwedische Weihnachtslieder, alle sangen.

Lucia und Weihnachten

Singend durch Ikea Würzburg zu laufen als Lucia mit schwedischen Weihnachtsliedern mit dem Chor, das war schon ein Erlebnis. Ich muss sagen, dass ich Lieder wie Stille Nacht noch nie so intensiv gesungen und gefühlt habe wie auf Schwedisch. Es kam mir wie eine Proklamation gegen Nikoläuse und Kommerz vor, oder auch bei Nu tänder tusen juleljus. Bei der Deutsch-Schwedischen Gesellschaft später beim Julbord, wo ich auch eigene Lieder gesungen habe, spürte ich, wie die süße schwedische Weihnachtsgeschichte mit den Wichteln und Tomtar etwas kollidiert mit der Bibel. Später sagen mir die Leute oft, sie haben eine Gänsehaut bekommen bei meinen Liedern, “obwohl es christliche Texte sind”. Eine junge Schwedin sagte, sie findet es schön, dass ich unkonventionell und anders sei.
Beim schwedischen Weihnachtsessen gab es Rentierfleisch, Elchfleisch, Köttbullar, Janssons Frestelse mit Anjovis, jede Menge Heringssalat, also Sill, Lachs in Wodka eingelegt, schwedischen Schinken mit Soße und weichem, süßen, dunklen, schwedischen Brot, leckeren typischen schwedischen Salat aus Apfel, rote Beete, Zwiebel und Kartoffel, schwedische, salzige Butter Bregott, schwedischen Käse, revbensspjäll, das sind Fleischrippen, Gans, Braunkraut, Blaukraut, Sherry-Sill, Schweinefleisch mit Honig und Soja, Glögg, schwedischen Kaffee, Kanelbullar, Lussekatter mit Safran und Rosinen, Reisbrei mit Obst und noch vieles andere mehr, alles Dinge, aus Schweden mitgebracht wurden. Im Reisbrei, den ich mit nach Hause nahm, hatte ich die berühmte, drin versteckte Mandel, das bedeutet, dass man nächstes Jahr heiratet. Na dann!
Auf dem Markplatz am Weihnachtsmarkt zu singen, war besonders schön für die Kinder, die dachten, dass wir Engel seien. Es blieben sehr viele Menschen stehen und hörten zu. Ich hatte manchmal Sorge, dass im Wind meine Luciakrone mit den Lichtern herunterfällt. Es war ziemlich kalt. Es muss wohl in der Zeitung gestanden sein, da einige Schweden da waren und mitsangen. Es waren sehr viele Kinder mit ihren Eltern insgesamt. Einer hat dann erzählt, wer Lucia war, dass sie sich früh zum Christentum bekannt hatte und getötet wurde.
Am besten gesungen aber haben wir im Matthias-Ehrenfried-Haus. Allerdings tropfte das Wachs der echten Kerzen der schweren Krone auf meine Haare, Augenbrauen und Wangen. Trotzdem war es schön, da alles um uns ganz dunkel war. Himlen hänger sjärntsvart lief besonders gut diesmal. Die Atmosphäre macht’s! Danach spielte ich noch Weihnachtslieder und Bach.

Meine Kaninchen haben die ersten Schneeflocken auch schon erlebt.
Meinen ersten Schnee Winter habe ich vorgestern im Schwarzwald erlebt. Leider war dies um 6 Uhr morgens, als ich vom Studio Beihingen bei Nagold auf den Parkplatz ging, um eilig zurück nach Würzburg zu fahren aufgrund des nächsten Konzertes. Mein Beetle war zugeschneit, die Tür fast zugefroren, der Kofferraum ging nicht auf, ich versuchte irgendwie mit Mantel und Handschuhen, die Scheiben freizubekommen, fuhr nach langsam los auf den serpentinenartigen Straßen abwärts. Immer, wenn ich es warm haben wollte, beschlug meine Frontscheibe, und ich musste wieder umstellen, fröstelnd. Dennoch genoss ich die Schneeflocken. Später auf der Autobahn war im milchigen Licht alles frei und in Ordnung, aber ich war schon spät dran, raste 160 mit meinem kleinen Motor, ich hatte das Gefühl, mein Beetle macht eine Grätsche mittendurch. Aber das Schneiden der klassischen Musik hat viel Spaß gemacht. Es ist aber einfach genauso viel Arbeit wie das Einspielen. Zum Beispiel, dass der Steinway immer wieder mal zwischendurch gestimmt werden muss, lernte ich dazu. Das ist natürlich bei einer Nachtaufnahme eine heikle Sache. Andreas ist der Profi, aber ich muss hören, wo wir sind, wo die Wolken und Bäusche auf dem Display die Musik sind, die wir wollen. Hören ist eine anstrengende Sache, vor allem, wenn man seine eigenen Sachen hört: dennoch unemotional und willig zu bleiben. Als ich im Studio für zwei Stunden ins Gästebett fiel, hörte ich pausenlos Musik, ein Drehen von einer Stelle Klavier im Ohr, vor lauter Hören und Aufnehmen. Aber dann schlief ich in diesem Strudel ein.
Das Schneiden muss man schon mit jemandem machen, den man mag, finde ich, da man gelöst und entspannt hören sollte, konzentriert, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.
Aber glücklicherweise habe ich ein gutes Gedächtnis, ich wusste noch 4 Wochen später, wann ich was gespielt hatte. Es ist nicht das Gedächtnis meines Verstandes, sondern das meines Körpers und meiner Seele, wie ich mich wann wo wie gefühlt habe.
Mittendrin fanden wir noch eine Improvisation, die ich einfach so, um mich zu beruhigen, gespielt hatte, um mich wieder zu motivieren gegen 14 Uhr nachmittags nach einer durchgespielten Nacht. Ich nannte sie Nachtgedanke und fand sie schön. Sie wird auf einer der beiden CDs drauf sein.
Das nächste Mal, wenn ich wieder ins Studio fahre, wird es 2010 sein, für die CD, die meine Lieder trägt.

Da ich nun zuerst nach Holland und dann nach Schweden fahre, wird es Januar werden.

05. September 2009

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Intuition hat weniger mit Impulsivität zu tun als mit Strategie

Kunst ist nur eine Facette von Liebe, eine wichtige zwar, aber nur eine. Tiefer als all das ist doch das Sein, und dazu gehören vor allem Beziehungen. Es ist sowieso immer eine neue Definitionsfrage, was Kunst, Literatur und Musik eigentlich genau sind. Dazu gehört die Aussage von Goethe, erst in der Beschränkung zeige sich der Meister. Das stimmt. Oder das es eben zwei Dinge (zwei Gaben) sind:der Verstand und sich seiner bedienen zu können.

Der wichtigste Teil beim Schach ist doch das Ende, wie im Leben, und dort kann man am meisten lernen. Die Eröffnungen und das Mittelspiel sind gut, aber eine Partie gut zu Ende zu führen, ist noch mal eine ganz andere Sache. Dazu gehört auch, dass man überhaupt verlieren kann. So auch im Leben.

Die nächsten zwei Wochen werde ich die Andachten allein leiten, das hat sich so ergeben, morgen ist mein Konzert hier. Die Andachten werden auch in der ganzen Umgebung hier gesendet.

Schlesien

Es ist schön hier: Ein altes leeres Kloster und seine Ruinen und Säle bei Lubaz, 30 km von Legnica; das Kloster heisst Opactwo Cysterskie. Es soll sehr beruehmt sein. Wir fuhren ueber Chemnitz und Goerlitz nach Liegnitz, alles war bis Breslau einmal deutsch gewesen. 6000 junge Leute, hauptsaechlich Polen, aber auch Deutsche, Oesterreicher, Neuseelaender, Norweger, Amerikaner, Tschechen, Kroaten, Schweizer kommen zusammen, alle Raeume und Wiesen erobert und grosse Zelte aufgebaut haben, um gemeinsam Kunst und Musik zu machen. Ich bin voellig hingerissen, so stelle ich mir ein wenig den Himmel vor. Da sitzen sie alle, malen, jazzen, singen, bauchtanzen, machen Musik, jonglieren, rappen, zeichnen, tanzen, trinken Kaffee, und mittendrin sitze ich und spiele Bach und eigene Songs und Chopin. Im Ausland glaubt man nicht, dass ich Deutsche bin, sie denken sofort an Skandinavien.
Ich genoss die Musik, als wuerde meine Seele an der Zeltwand haengen, als wuerde mein Geist auf meinem Herz liegend die duennen luftigen, gelbgrauen Zeltwaende beruehren.

Das Gefuehl von internationaler Gemeinschaft sensibler Menschen, die suchen, aktiv und leidenschaftlich sind und auf einem Gelaende zusammenkommen und wohnen und essen, und dann gemeinsam singen, erfuellt mich jedes Mal mit Ruehrung, dass das Unsichtbare auf das Sichtbare trifft, und ich kann Unsichtbares sehen und Sichtbares hoeren und fuehlen. Alles nehme ich ueberstark wahr, dass auch meine Haut unter Strom steht. Der juedischen Jazzer Paul Zarecki, der ein weites Herz hat, Bzim, so wie er genannt wird, hat recht: Es gibt c-Moll, und es gibt ein c-Moll-Universum, und ohne Skalen geht es eben nicht. Er sagte mir, ich brauche keine passion, ich brauche patience, und BIBLE sei Basic Instruction Before Leaving Earth. So wie er es aussprach mit seinem Akzent, hoerte es sich fast gleich an. Ich mag Zelte, da ich darin das Gefuehl habe, sowohl drinnen als auch draussen zu sein.

Algajola

Zuvor gab es eine Wanderung durch Corbara mit seinem Kloster nach San Antonino, zurück über Areggio, Pigna und Algajola. Ich ritt zur Freude des kleinen Künstlerortes mit einem Esel durch die Stadt. Im Jahr habe ich ungefähr 80 bis 100 Konzerte.
Wenn ich die Kinder beobachte am Strand in Calvi, die mit mir spielen wollen und so zutraulich auf mich zukommen, dann habe ich das Gefühl, es stehen weiche tropfende Seelen vor mir, pure Kunst, und ich sehe in ihre leuchtenden, schmelzenden Augen, die voller Liebe sind. Ich beobachte, wie die französischen und korsischen Familien mit ihren Hunden im Meer spielen; die Hunde sind belastbar und freudig, sie holen einen gelben Ball mit schwarzen Punkten, als würde es um ihr Leben gehen, schwimmen wedelnd, wobei sicher angestrengt, bis weit hinaus, von den Felsen springend. Manchmal kommen korsische Jugendliche und rasen mit ihren Motorrädern am Strand entlang, oder es kommen Männer und Frauen, die mich wecken und fotografieren wollen. Manchmal liegt ein Hund dicht neben meiner Matte und schläft in der Sonne, ohne zu blinzeln. Es ist der Hund von irgendeinem der Strandrestaurants. Kurz, man könnte den ganzen Tag dort liegen, ohne sich zu langweilen. Wenn ich im Saal übe, hören oft Franzosen oder Korsen oder Deutsche zu. Sie scheinen es zu geniessen und sich daran zu erfreuen.

25. Mai 2009

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Bremerhaven

Von den bulgarischen Sängern erfuhr ich, dass Russland ihr Alphabet übernommen hätte und dass wir Deutsche in Wien Piefke heissen. Um uns herum lag ein ruhiges internationales Bremerhaven, dass offensichtlich nicht daran interessiert war, 60 Jahre Grundgesetz zu feiern.
Am nächsten Tag besuchte ich das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven. Ich verbrachte dort fast drei Stunden und hätte beinahe meinen Zug verpasst- es war ein Wunder, dass ich ihn noch erwischt hatte — ich kam 12:32 am Bahnhof an, und mein Zug ging um 12:28.

Aber dieses Museum zeigte mir, was der Sinn eines Museums ist, da Fernweh, Heimweh und die Suche nach Heimat an persönlichen Einzelschicksalen aufgezeigt wurden. Atmosphäre und Stimmung mischten sich mit Information. Über sieben Millionen Menschen sind bis heute ausgewandert oder geflüchtet, in grossen Emigrations-Schiffen, aus Bremerhaven auslaufend. Noch nie hatte ich das Ausmaß des Zweiten Weltkrieges so deutlich verstanden wie an diesem Morgen, obwohl ich mich nun so eingehend jahrelang mit den Weltkriegen und Deutschlands Geschichte beschäftigt hatte. Ich musste drei mal weinen in diesem Museum, vor allem, als ich ankam in der Neuen Welt, in den USA, und Dvoraks Sinfonie Neue Welt lief. Ich bemühte mich, alle Schicksale zu hören; es dauerte sehr lang. Ein Leben berührte mich besonders, das Leben einer jungen Ärztin, die 1933 alles verloren hatte und um das Leben ihrer Kinder bangen musste. Sie hatten kein Geld, obwohl sie reich war; die Nachbarsländer und Grenzen waren zu und selbst, als jedes Jahr lebensgefährlich wurde, bestand die USA auf Wartezeiten, Papiere und Bürgschaften zur Einreise. Dennoch hatten sie es geschafft nach Jahren der Qual, und sie standen vor dem Nichts, als sie endlich in den USA ankamen. Selbst die Schiffsüberfahrt war ein Tortur. Auf der Freiheitsstatue stand: Willkommen, ihr Massen an Sehnsucht, ihr, die keiner sonst will. Ich war berührt von dem Mut dieser Frau. — Ich kann nachvollziehen ein Stück weit, was es bedeutet, alles zu verlieren, machtlos zu sein, loslassen zu müssen, vor dem Nichts zu stehen, keine Vergeltung fordern zu können, keine Gerechtigkeit zu spüren und dennoch das Land zu lieben, zu brauchen. Und dabei war es noch das Leben, mit dem sie davon kamen. Andere verloren selbst das. Wer war diese Frau? Da ich keinen Stift hatte, wollte ich mir ihren Namen merken — dann stellte ich fest, dass zufällig genau ihr Name auf meiner Eintrittskarte stand — denn, das hatte ich vergessen, jeder war einer bestimmten Person von damals zugeteilt worden. Ihr Name ist Hertha Nathorff.

23. Mai 2009

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Ich höre Erschaffung

An Materialien für Kunst liebe ich Seide, Gold, Leder, Haar, Acryl und Öl. Morgen besuchen wir das Auswandererhaus in Bremerhaven und heute Abend die Operette Vogelhändler, die Ara dirigiert: die Abschlußvorstellung von dem Bassisten Klaus Damm, die dernière (letze Vorstellung).

Abends ging ich erst einmal auf Uhrenjagd. Anna sagte, sie könne es nicht glauben, dass ich noch die Uhr aus dem Badezimmer höre. Es gibt Geräusche, die ich sehr gerne höre beim Schlafen: Wind, Sturm, Regen oder das gleichmässige Schnurren in Autos und Zügen.

Linie 1 ist ein berührendes und schockierendes Musical. Die Theatermaler malten in den Werkstätten des Theaters Graffity-Wände, die Techniker bauten eine U-Bahn mit Licht und Geräuschen aus Berlin, der Tonmeister nimmt die Geräusche auf — das allein, all die Requistiten sind Kunst und Kreativität pur.

Die Menschen hier haben Theaterwissenschaften, Kulturwissenschaften und Medienwissenschaften studiert.

In der Pause saßen wir mit der Band des Musicals in der Theaterkantine. Ich mag den Nachgeschmack von Balisto. Viele Schauspielerinnen haben einen Gastvertrag. Ara hat das meiste mit den Schauspielern einstudiert, die auch singen und tanzen müssen und oft keine Noten lesen können.

Die Männer spielen gerne Frauen. Es ist unheimlich, wenn eine solche ‘Frau’ riesig und geschminkt auf mich zukommt. Sie verlieren sich im unendlich Weiblichen, sagen sie, und sind sehr erfreut, eine Frau zu sein.

Es gibt einige Schauspieler, die noch mit 65 in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen. Für Neue Kunst, egal, welche Form, ist es oft nicht leicht, die richtige Grenze zu finden zwischen Provokation und Pornographie. Manchmal braucht es aber auch einen mutigen Schritt aus dem Alten heraus. Überhaupt braucht es unbedingt Mut zur Kunst. Seine Hände tropfen mit Geschichte. Und auch ich suche. Dadurch ist mir die Mathematik sehr sympathisch geworden. Sie ist Musik. Sie entfaltet sich erst im Rhythmus, wenn sie den Herzschlag schlagen kann. Und besonders im menschlichen Gesang findet sie Erfüllung, im Weichen, Persönlichen, Verletzlichen. Mathematik ist nicht dazu da, unpersönlich und abstrakt zu sein.

Riga, Lettland

Am Abend des Tages war Feuerwerk in Riga, da dies der Erinnerungsabend des Sieges der Russen ist, und in langen Märschen marschierten die Russen teils sehr betrunken und schreiend zum Siegesdenkmal. Das ist schwer für Lettland, zu ertragen. Sie fürchten sich oft und bleiben in ihren Häusern, vor allem die Mädchen und Frauen. Ich finde es schade und traurig, vor allem, weil es so viele ganz junge Russen sind, die durch die Stadt laufen, „Nacija“ schreien, singen und rote Flaggen schwingen. Zuerst dachte ich, sie schreien Vacija, was Deutschland heisst. Manche Letten sagen, sie würden sofort erkennen, ob jemand russisch ist, andere sagen, das sei unmöglich. Aber die russische Sprache ist viel dominanter und härter als Lettisch, und es ist schwer für Lettland zu vergessen, was Russland Lettland angetan hat, und wie groß, nah und gefährlich Russland nach wie vor für sie ist und präsent im eigenen Land, in Lettland. Es ist unsicher, auf nächste Generationen zu warten, die anders sein könnten, wenn so viel Hunger da ist auf jedem Gebiet, vor allem in der Krise. Aber ich sehe auch eine Leidenschaft in den Augen der Letten, eine Wildheit, die ich oft woanders sehr vermisse, dort, wo es immer brav und nach denselben Regeln zugeht, ohne Entscheidendes zu verändern. Auch Zaiga hatte Angst, da dies eine organisierte Feier ist. Als ich nach Hause kam und singend das Treppenhaus hochlief, lief Ilze mir warnend entgegen, eine betrunkene Frau läge im Treppenhaus und schlief. Wir weckten sie, aber sie konnte nichts sprechen und schlief sofort wieder ein.

Heute fand die Improvisations Meisterklasse auch in der Musikakademie statt, da dort die Kokles in einem Extra-Raum stehen. Wir improvisierten diesmal direkt in einer größeren Gruppe mit zwei Kokles, Akkordeon, Klavier, Geige und Gesang — eine solche Kombination habe ich noch nicht erlebt. Mir sind die Tränen gekommen. Warum wird etwas so Wichtiges und Schönes so selten gemacht? Besonders als die Geigerin einsetzte, konnte ich mich kaum beherrschen. Ich habe das Gefühl, ich bin durch eine neue Tür hindurchgegangen. Es ist emotional sehr anstrengend für mich, höre, leite, führe, aber möchte und muss gleichzeitig vor allem anleiten, dass die jungen Musiker vor Ort selbst wissen, wie sie sich führen können.
Wir sprechen viel in meinem Improvisationskurs miteinander, da durch die Musik so viel ausgelöst wird. Ich war erstaunt, die ‘Mutter’ des Kokles zu sehen: eine Art Holz-Zither, wie eine Gitarre klingend, ein uraltes Instrument, vielleicht das Instrument Davids, ein nationales Instrument, das das Herz der kleinen Nation trägt.

Auch Finnland hat ein ähnliches Instrument, allerdings chromatisch. Kokle selbst wird nun sogar mit Mikrofonen gebaut und mit Klappen, damit es lauter klingt, und ist ein diatonisches Instrument. Natalija spielte uns ihre eigenen Stücke vor, Stücke, wie die Letten von den Russen nach Sibirieren verbannt worden sind, so wie Israel damals nach Babylon verbannt wurde, und wie sie zurückkamen. Auch mich bewegte das sehr, denn auch ich fühle mich manchmal als Künstlerin verbannt und warte auf Leben und Gerechtigkeit. Ich habe erlebt, dass Menschen, die kein Instrument spielen und Zweifler sind, so wunderschön improvisiert haben, dass ich fast weinen musste, denn sie haben eine Offenheit, eine Ehrlichkeit, eine kindliche Art zu suchen, die notwendig ist, um Kreativität ‘zu holen’. Sie verbannen Scheu und unguten Ehrgeiz. Die Musik rollt irgendwann von allein.