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Rezensionen Neue Musik

Contemporary Classic Music. Auswahl. Auszüge

CD HOLY SPIRIT (Pfingsten 2022 ) audite 97.801.P 2022 Trost Orgel Waltershausen, Thüringen. Kristalle für Orchester 2023, Furore Kassel

Mit dieser neuen CD mit wohlbekannten Werken von Bach, dazu zwei Werken von Reincken und Scheidemann nebst zwei eigenen Kompositionen stellt sich die junge Würzburger Organistin der Orgel-CD-Welt vor. Gespielt auf der Trost-Orgel der Stadtkirche Waltershausen verknüpft sich der Anspruch auf eine bewusst historisch informierte Spielweise. Hohe Ansprüche stellt sich Schlüter auch als Komponistin und Malerin, denn auch das durchaus ansprechende Cover “Duft” hat sie in kräftigen Farben selbst gemalt. Aufhorchen lassen auch ihre beiden Klangflächen-Kompositionen Rapture (Entrückung) und Shades (Duft der Klänge), bei denen Klänge verschiedener ähnlich klingender Register, auch mit halbgezogenen Schleifen mit und ohne Tremulanten auf interessante Weise ineinander fließen.

Die Titel der zwei Stücke geben Anregungen, was Motivhintergrund ihres Covers sein könnte. Titel gebende Stücke sind Bachs zwei “Komm, Heiliger Geist”- Sätze aus den Leipziger Chorälen , dazu Scheidemanns Coloratus-Bearbeitung desselben Chorals…

KMD Rainer Goede, Ansbach, Oktober 2022

 

Titel für Orgel solo, Laurentius-Musikverlag, LMV 322, 323, 324, 325, Frankfurt am Main

Die vielseitige Würzburger Pianistin und Organistin Ann-Helena Schlüter hat mehrere Kompositionen veröffentlicht, deren Notenbild im ersten Moment überrascht und verwundert. Im Gespräch mit dem Rezensenten erklärte sie Hintergründiges: so findet sie über ihren Farbsinn und Malvorstellungen zu Improvisationen, die anschließend aufgezeichnet werden. Spezielle Farbmischungen und ineinander übergehende Farben verhindern dabei scharfe Konturen rhythmischer Art, Form-Gerippe gar sucht man deswegen vergebens in ihren Noten.

Spielanweisungen wie Paralysiert, glitzernd, orakelhaft wie in Apocalyptica Covid 19 vermitteln dazu Vorstellungen die einem Interpreten Wege öffnen sollen, die Musik nachzuvollziehen.

Erst vor diesem Hintergrund ist das Lesen des Notentextes möglich. Dieser gibt in seiner Taktlosigkeit nur ungefähre Hinweise auf Rhythmik, Pausen, Artikulationen, Tempi, Tempobezüge und wahrscheinlich auch auf die notierten Tonhöhen. Die bewegen sich oft auch einmal weit außerhalb des Liniensystems und der Klaviaturen und sind deshalb schwer zu lesen und umzusetzen. Genauer zu nehmen sind aber die Hinweise auf dynamische Vorgaben, Klangvorstellungen und Werkverteilung, so weit möglich. 

So muss der Interpret hier nachschöpferisch tätig werden, wenn er dem Notentext (frei) nachkommen will. 

So entstanden Stücke wie der virtuose Pandemic Dance mit Zuspielband ad lib., der mit diffusen Klängen emotionale Eindrücke und Stimmungen unter Corona-Zeiten nachzeichnet. 

Stille stand Agonieein ruhiges mit Wehmütig im Untertitel bezeichnetes Stück malt mit weit verteilten Melodiefetzen ein introvertiertes Stimmungsbild. 

Tempelruf I versammelt die drei monotheistischen Glaubensrichtungen mit einer freien Muezzin-Imitation im Pedal unter wechselnden Klangflächen, kontrastierend dazu der Tempelruf II, der dem Untertitel Furcht, Seuche mit wilden Figuren oszillierend nahe kommen will. 

Die agile Komponistin, die ihr feminines Wesen betont, arbeitet mit ihrem Wissen und Schaffen in der Nähe von Spirituellem, sucht mit ihren Kompositionen intro- wie extrovertierte Situationen in einen klanglichen Griff zu bekommen. Ihr reicher kompositorischer Output schenkt der zeitgenössischen Literatur eine neue, individuell geprägte Seite. 

KMD Rainer Goede, Ansbach, Januar 2022


Kristalle und Feuer für Orgel an der Klais-Orgel in Würzburg (Ralf Schwarzien)

Um es vorweg zu nehmen: ein einzelner Ton beginnt und ein einzelner Ton beendet das Werk. Was dazwischen passiert, ist umso faszinierender. Ann-Helena Schlüter interpretiert ihre Komposition in einer Intensität und technischen Brillanz, dass ein Weghören schier unmöglich macht. „Kristalle“ ist wie der Gang in einer Eishöhle.

Zunächst unbeweglich, befremdet, Halt suchende Blicke… und nur allmählich erschließen sich die Farben der (Eis)Kristalle. Zu den im Dunklen fundamentgebenden Tönen gesellen sich zerbrechliche, der üblichen Intonation entrückte Töne. Schwirrend, verdichtend. Pulse versuchen das Kristall zu zerstören – die Tiefen dominieren.

Sie werden abgelöst von klaren und dann ostinaten glockenartigen Klängen – fast wie eine rituelle Szenerie. Man taumelt in der Eishöhle. Imitatorische und kontrapunktische Elemente scheinen die Kristallhöhle zerstören zu können. Nichts kann jedoch die Verbundenheit der Kristalle schwächen. Fast ruhig und zufrieden endet der erste Satz.

Jedoch droht Ungemach in der Tiefe. Ann-Helena Schlüter entwickelt einen Feuersturm, der aus der Tiefe kommend in pulsierenden Bewegungen alle Versuche der Melodie- und Harmoniebildung schlussendlich schreiend zerstört. Aber diese Macht des Feuers ist trotz höchster technischer Schwierigkeiten in höchster Präzision und Emotion gespielt.

Die kreischenden und chromatischen Flammen enden schließlich in einer gedämpften Orgelpartie – in scheinbarer Überwältigung alles Hellem verbleibt Dunkles. Hier hindurch schält sich wieder etwas Hoffnungsvolles hervor, hilfesuchende Harmonien, Halt suchend in einem Orgelpunkt, die letztlich mit einem einsamen Ton am Ende jede weitere Entwicklung und Hoffnung offen hält.

Mit derart programmatisch angelegten Werken kann man sicherlich viele neue Freunde für die zeitgenössische Orgelmusik gewinnen. Zudem, wenn es derart meisterlich an der Orgel zelebriert wird.

Ralf Schwarzien (Musiklehrer, Notensetzer, Orchestermusiker) 2022


Kristalle & Feuer (Wolfgang Kahl)

Man hört hier ein sehr individuelles, zeitgenössisches Orgel-Werk von Ann-Helena Schlüter.

Atonale Musik in ihrer Freiheit und Vielfalt, interpretiert auf einer Kirchenorgel mit einem klanglich beachtenden Erscheinungsbild. Entsprechend individuell und ungewohnt erklingt die Musik. Der Aspekt des Neuen ist unüberhörbar, zunächst undefinierbar aber eben auch überaus vielfältig. Ohne Festlegung auf eine bestimmte Richtung entzieht sich Ann-Helena Schlüter traditioneller Formen, um die Offenheit des musikalischen Schaffens neu zu betonen.

Sie wagt es neue, eigene Wege zu gehen, neue musikalische Mittel für zeitgemäße  und künstlerische Ausdrucksformen für die Weiterentwicklung und Differenzierung der (E) Musik zu finden. Dieses Spiel mit künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten ist essenziell für einen kulturellen Diskurs, kulturelle Entwicklung und die Fähigkeit zur Selbstreflexion unserer Gesellschaft.

„Musik stellt Ordnungsverhältnisse in der Zeit dar“ (Karlheinz Stockhausen). Ann-Helena Schlüter setzt sich für diese neue Wahrnehmung und Wertschätzung ein und dafür gebührt ihr hohen Respekt. Das ist Klangkunst im sehr beeindruckenden, zeitgenössischem Charakter.

„Kristalle und Feuer“ beginnt zart und monoton, und nach und nach gesellen sich kristallene Klangelemente dazu. Bordun-Technik mit darüber einfließenden Kristall-Eindrücken sorgen für ein offenes Klangerlebnis. Harmonische Struktur wird hörbar und zunehmend klanglich freier.

Ein rhythmischer Bordun-Bass sorgt plötzlich für eine neue, metrische Basis, der Kristallklang bleibt unüberhörbar bestehen. Eine neue, klangliche Offenheit dominiert das neue Klangerlebnis. Der Bass scheint zu dominieren, aber die Kristalle lassen sich nicht entschärfen und kommen agierend in den Vordergrund. Die improvisatorische Kristallgestaltung ist nicht zu überhören. Die Kristalle dominieren und der Bass kann sich nur noch unterordnen.

Im zweiten feurigen Feuer-Teil wird ein klanglich völliger Kontrast zum ersten Teil mit voller Orgel-Werkregistrierung hörbar. Harmonische Struktur und wechselseitiger Austausch  von Feuer und Kristalle bis hin zu enormen Feuer-Elementen. Das Feuer dominiert, bahnt sich eine neue Ebene und die Kristalle bäumen sich auf. Es gilt eine neue Ebene, doch zum Ende dominieren die Kristalle. 

Das sehr beeindruckende Werk ist eine moderne Erklärung an und in der Orgelharmonik, diese Realität in all ihren Farben. 

Wolfgang Kahl (Komponist) 2022


Pandémica (Thomas Astfalk)

Sphärische, mystische Klangkontraste, das „dies irae“-Zitat im Pedal bewusst gedackt gehalten zu hellen Oberstimmen lässt aufmerken; sehr kunstvolle tänzerische Bewegungen auf allen Ebenen. Überraschungen sowohl in rhythmischer wie auch klanglicher Hinsicht. Ein gelungener Ausbruch aus dem Korsett dessen, was man sonst zu hören gewohnt ist.

Neoharmonische Kräfte fern jeder Plattitüde, kreative, virtuose Klangfelder als logische Folge des musikalisch Immanentem.

Thomas Astfalk, Bad Wimpfen (Kirchenmusiker) 2022



Pandemic Dance (Volker Hege)

In diesem Zyklus werden Grenzen gesprengt: atonale Zerrissenheit und tonale Szenarien der Ruhe. Chaos konfrontiert Entspannung im Spiegel unserer Zeit: Konfrontation von heiler Welt, Geheimnis und göttlicher Gerichtbarkeit.

Das mystische und musikalische Spektrum ist groß.

Volker Hege, Bad Oeynhausen (Klassikseiten) 2021


Pandemic Dance (Dieter Weidemann)

Schockierend und dennoch ein pandemischer Tanz mit Variationen, der Hoffnung und Mut verleiht, zu dem man innerlich tanzen kann, der stark ist. Diese Eigenkompositionen bringen ganz neue klangliche Aspekte in die Orgelrepublik.

Dieter Weidemann, Bad Windsheim (Kantor, Chorleiter) 2021


Pandemic Dance (Bettina Astfalk-Lehmann)

Elementare Klangereignisse, Althergebrachtem spottend, ironisch, wild, intensiv. Widerspiel von Kräften, verglühend und doch direkt ins Herz gebohrt. 

Bettina Astfalk-Lehmann (Kantorin Heilbronn) 2021



Pandemic Dance (Christoph Kätzel)

Die bewusst weibliche und helle Sprache von Ann-Helena Schlüter an der Orgel ist außergewöhnlich, andersartig und daher vielleicht für manche ungewohnt. Zudem ist die Pandemie als Tanz ausgedrückt. Es ist ein dämonischer oder verzweifelter Tanz, jedoch im Zyklus der anderen pandemischen Tänze von Ann-Helena Schlüter stets mit Hoffnungsschimmer auf Rettung erfüllt.

Die Komponistin schreibt ihre Werke aus Improvisationen heraus, die sie live in Konzerten spielt. Das Werk Pandemic Dance, 2020 und 2021 komponiert, der erste Teil des Zyklus, gibt den Schrecken und die Angst der Pandemie wieder. Typisch für diesen Zyklus ist, dass sie im Pedal sehr hohe Stimmen verwendet, die Pedalstimme sozusagen in einen Sopran umfunktioniert und diese im Violinschlüssel notiert. Mittlerweile enthält der Zyklus Pandemic Dance viele verschiedene Variationen. Die sehr hellen und flirrenden Klänge im 1-Fuß kombiniert mit dem hellen Pedal im 4-Fuß bzw. im Diskant ergeben eine mir völlig neue und ungewohnte Tonsprache. 

Die Bindung der Noten ist gut gewählt, wobei mir für Orgelnoten die Version im Querformat im Allgemeinen sinnvoller erscheint, da bei drei- fünfmanualigen Spieltischen eine Höhe der Noten entstehen kann die für Organist*innen, die nicht gerade Sitzriesen sind durchaus zu Schwierigkeiten in der Les- und Spielbarkeit führen kann. Die Lesbarkeit und das Druckbild dieser Noten sind erstklassig.

Christoph Kätzel (Intonateur, Orgelbau Heissler) 2021


Apocalyptica für Orgel (Andreas Friedrich​​​​​​​)

Das Stück Apocalyptica von Ann-Helena Schlüter ist Neue Musik vom Feinsten, jedoch auch vom Sonderbarsten. Die Organistin verwendet ein reiches Spektrum an Farben, besonders in den hohen Lagen. Beinahe verstörend klingen hierbei die angstmachenden Umstände unserer Zeit, in Musik ausgedrückt.

Das Spektrum der Orgel wird sowohl vom Umfang als auch vom Farbreichtum voll ausgeschöpft. Durch Manualwechsel, Triller, virtuose Läufe und virtuoses Pedalspiel werden die Viren buchstäblich zum Leben erweckt. Der persönliche Stil von Ann-Helena ist hierbei erstaunlich. Wer ihr Gesamtwerk kennt, bemerkt eine melancholische, düstere, dennoch helle, nordische Note ihrer Musik. Auch diese Komposition zeichnet sich durch Kreativität und künstlerische Meisterschaft aus. Sie spiegelt eindrucksvoll die Leidenschaft in der Komposition und Realisierung des Stückes wider.

Andreas Friedrich​​​​​​​ (Autor) Weissenfels 2021

 

Pandémica Dance
Komet
Der weiße Reiter
Pandemie Tanz
Rapture