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10. Mai 2009

Riga, Lettland

Am Abend des Tages war Feuerwerk in Riga, da dies der Erinnerungsabend des Sieges der Russen ist, und in langen Märschen marschierten die Russen teils sehr betrunken und schreiend zum Siegesdenkmal. Das ist schwer für Lettland, zu ertragen. Sie fürchten sich oft und bleiben in ihren Häusern, vor allem die Mädchen und Frauen. Ich finde es schade und traurig, vor allem, weil es so viele ganz junge Russen sind, die durch die Stadt laufen, „Nacija“ schreien, singen und rote Flaggen schwingen. Zuerst dachte ich, sie schreien Vacija, was Deutschland heisst. Manche Letten sagen, sie würden sofort erkennen, ob jemand russisch ist, andere sagen, das sei unmöglich. Aber die russische Sprache ist viel dominanter und härter als Lettisch, und es ist schwer für Lettland zu vergessen, was Russland Lettland angetan hat, und wie groß, nah und gefährlich Russland nach wie vor für sie ist und präsent im eigenen Land, in Lettland. Es ist unsicher, auf nächste Generationen zu warten, die anders sein könnten, wenn so viel Hunger da ist auf jedem Gebiet, vor allem in der Krise. Aber ich sehe auch eine Leidenschaft in den Augen der Letten, eine Wildheit, die ich oft woanders sehr vermisse, dort, wo es immer brav und nach denselben Regeln zugeht, ohne Entscheidendes zu verändern. Auch Zaiga hatte Angst, da dies eine organisierte Feier ist. Als ich nach Hause kam und singend das Treppenhaus hochlief, lief Ilze mir warnend entgegen, eine betrunkene Frau läge im Treppenhaus und schlief. Wir weckten sie, aber sie konnte nichts sprechen und schlief sofort wieder ein.

Heute fand die Improvisations Meisterklasse auch in der Musikakademie statt, da dort die Kokles in einem Extra-Raum stehen. Wir improvisierten diesmal direkt in einer größeren Gruppe mit zwei Kokles, Akkordeon, Klavier, Geige und Gesang — eine solche Kombination habe ich noch nicht erlebt. Mir sind die Tränen gekommen. Warum wird etwas so Wichtiges und Schönes so selten gemacht? Besonders als die Geigerin einsetzte, konnte ich mich kaum beherrschen. Ich habe das Gefühl, ich bin durch eine neue Tür hindurchgegangen. Es ist emotional sehr anstrengend für mich, höre, leite, führe, aber möchte und muss gleichzeitig vor allem anleiten, dass die jungen Musiker vor Ort selbst wissen, wie sie sich führen können.
Wir sprechen viel in meinem Improvisationskurs miteinander, da durch die Musik so viel ausgelöst wird. Ich war erstaunt, die ‘Mutter’ des Kokles zu sehen: eine Art Holz-Zither, wie eine Gitarre klingend, ein uraltes Instrument, vielleicht das Instrument Davids, ein nationales Instrument, das das Herz der kleinen Nation trägt.

Auch Finnland hat ein ähnliches Instrument, allerdings chromatisch. Kokle selbst wird nun sogar mit Mikrofonen gebaut und mit Klappen, damit es lauter klingt, und ist ein diatonisches Instrument. Natalija spielte uns ihre eigenen Stücke vor, Stücke, wie die Letten von den Russen nach Sibirieren verbannt worden sind, so wie Israel damals nach Babylon verbannt wurde, und wie sie zurückkamen. Auch mich bewegte das sehr, denn auch ich fühle mich manchmal als Künstlerin verbannt und warte auf Leben und Gerechtigkeit. Ich habe erlebt, dass Menschen, die kein Instrument spielen und Zweifler sind, so wunderschön improvisiert haben, dass ich fast weinen musste, denn sie haben eine Offenheit, eine Ehrlichkeit, eine kindliche Art zu suchen, die notwendig ist, um Kreativität ‘zu holen’. Sie verbannen Scheu und unguten Ehrgeiz. Die Musik rollt irgendwann von allein.

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