Die Konzerte in Erfurt waren sehr schön. Nun fahre ich heute nach Liegnitz mit anderen Musikern und anschliessend zum Konzert in Nürnberg.
In der Pause nahm ich am Bogenschiessen auf der Wiese teil. Es machte so viel Spass, doch es war nicht leicht: Obwohl ich mir meinen schlimmsten Feind vorstellte, landete mein Pfeil auf der Wiese. Der Bogen ist schwer, man muss sich ziemlich verdrehen, zielen und genau wissen, wann loslassen. Die Atmosphaere des Klosters ist voller Geschichte, Duft, Aufeinanderprallen von Zeit und Kulturen — allein sich drin aufzuhalten ist ein kreativer Akt und inspiriert mich enorm. Beim Ueben heute fiel mir einmal mehr auf, wie bedeutungsvoll Harmonien sind.
Heute habe ich eine kleine Bachforelle mit der Angel gefangen. Es war abenteuerlich, da die Brennnesseln an der kleinen Grube — so heißt der Bach im Garten — so hoch und groß waren wie ich. Ich über Stacheldrahtzäune an Kühen und Schafen und Hühnern vorbeimusste. Wir wateten in kniehohen grüngrauen Gummistiefeln durch den kalten Fluss, ohne Schlamm aufzuwirbeln, und flüsterten. Ich merke, wie dort mein verstecktes skandinavisches Blut zum Vorschein kommt. Wir aßen jeden Morgen frische Eier, die ich aus dem Stroh ‘fischte’.
Das Haus der Landschaftsarchitekten und Künstler in Höxter bei Kassel, dort, wo ich das Open-Air-Konzert auf der Gartenbühne spiele, ist wiederum eine ganz andere Art Traumhaus, nicht so romantisch, sondern eine Mischung aus Wildheit, Weite, Ordnung. Es ist ein fast rein ökologisches Haus in einem warmen Gelb mit Holzvorbau, Holzfenstern, Brunnen, Solaranlage auf dem Dach, Hühnern, Katzen, Gewächshaus, einem eigenen Bach, indem sie Forellen fischen.
Calvi bei Nacht zu sehen, war ein schönes Erlebnis. Die kleine korsische Bahn ruh.t Die korsische Sprache, die so sehr nach Italien klingt, zeigt gesungen eine solche Kraft, einen Rhythmus, dass ich mit den Sternen über mir davontanzen möchte.
Sehe ich die kleinen Balkons der Korsen, wenn ich den Kopf in den Nacken lege, stelle ich mir vor, dort ein anderes Leben zu leben, vielleicht mit fünf Kindern auf engstem Raum. Als Evelyn, die in Pinea 10 Wochen gearbeitet hat und auch am Samstag zurückfliegt, und ich später am einsamen Strand auf den Felsen lagen, das Meer glucksend unter uns, über uns Hunderte von Sternen, konnte ich mir kaum vorstellen, dass die Sonne mehr oder weniger unter uns die Planeten gegenüber anleuchtet und der Kosmos das große Nichts ist — es geht bis dahin, dass ich mich frage, warum ich nicht angeleuchtet am Himmel zu sehen bin .. bin ich kein Planet? Tagsüber war es sehr heiß und windig, die Steine reflektierten noch die Wärme, wie die Planeten das Licht der Sonne reflektierten, doch es war schon recht kalt. Einige Sternschnuppen sanken dahin, vielleicht hatte ich sie zu leidenschaftlich angesehen, dass Sterne verglühten. Da ich gehört hatte, dass die Sterne zueinander in Intervallen geordnet sind und das ganze Universum singt, versuchte ich, die Intervalle zu hören, während ich nach oben sah, aber ich hörte sie nicht. In zwei Wochen habe ich ein Vorspiel an der Freiburger Musikhochschule, darauf freue ich mich schon; doch erst mal die Konzerte in Velbert.
Die Strandwanderung war ein Genuss: einsame Buchten und Strände inmitten der Maccia — es duftet, weil die Maccia mannshoch wächst: ein duftender Irrgarten aus blühendem Gestrüpp umrundet die Klippen, die von Sand, Meer und Wind über Jahrhunderte zu den kunstvollsten Formen geschliffen wurden: ein granitharter Felsen sah aus wie ein Krokodil, ein anderer wie ein Nashorn. Ich badete an zwei Stellen — einmal dort, wo es wellig war, die Wogen an die Steine zischten und das Wasser dunkel von Tang, und an einer ruhigen Stelle, wo es türkisgrün, hellblau und dann wieder dunkelblau war, in Schichten schillernd bis in die Ferne. Das Meer zeigt hier eine einzigartige Farbkombination. Mit meinen hohen offenen Bounce-MBT-Schuhen war es teilweise nicht leicht, steil abfallende Wege nach unten oder oben durch Kies und Schotter zu laufen. Durch die Sonne bin ich ziemlich braun geworden in dieser Woche. Zurück an unserem Heimatstrand schwamm ich mit einem Gast bis zur hintersten Boje, die einsam, schmutzig und gelb vor Anker lag. Ich dachte mir, nur keine Panik bekommen — es ist wie beim Klavierspielen — auf offener See schwimmen ohne Land in Sicht. Bekommt man Panik, wenn man so lange, mindestens 40 Minuten, auswendig spielt, geht man unter.
Das Klavierkonzert war ein Erfolg, Manfred Domrös, seit 30 Jahren im Hauskreis mit Manfred Siebald, leitete den Abend ein und zuende. Es tat gut, in Klimaanlage zu spielen, da sich die Sonne in mir drin zu befinden schien: ich fühlte mich heiß und müde an nach den Wanderungen. Es gab ein Blitzgewitter, weil jeder des Publikums uns mit unseren neuen, korsischen Kleidern fotografieren wollte. Unsere Zugabe war ein Tanz von Fauré. Chopin, Lyrik und Songs lieben die Leute am meisten.
Bremerhaven ist wie ein Kurort, ein Bad — teure Hotels und Restaurants, moderne Architektur, die roten Straßensteine wie auf den Nordsee-Inseln, salzige Meeresluft, das Meer, das die Gerüche von Dänemark, Schweden und vom Baltikum herüberträgt — man ist schwerlich noch in Deutschland. Ich kann an diesen Meeres-Gerüchen erkennen, wie sehr sich Deutschland und Europa vermischen, dass es einmal nur noch Europa gibt. Das tut mir auch weh.
Zuerst möchte ich immer das Meer sehen. Das Meer ist für mich eine solche Offenheit, dass die Einsamkeit darin nicht mehr schmerzlich ist. Es war sehr windig, als ich es endlich sah am Abend des Tages, und die Sonne ging gerade unter, rot und ruhig, kurz nach neun Uhr abends. Es ist mir unbegreiflich, wie schnell die Sonne untergeht, wenn sie einen bestimmten Punkt erreicht hat.
Die Nordsee, viel salziger als die Ostsee, küsst irgendwo um Schweden unten herum die Ostsee. Im ICE nach Bremerhaven ist mir, wie oft, passiert, dass ich ins Gespräch komme mit meiner Nachbarin, diesmal einer Schauspielerin aus München mit einem niedlichen Hund — dann kaufte sie spontan eine CD von mir.
Zunächst sah ich in Bremerhaven das Stadttheater, recht rund, weiß und groß, und spielte mich hinten im Zimmer des Solorepetitors und Kapellmeisters ein, einem guten Freund aus der Musikhochschule Würzburg, ein Grieche. Das Theater ist nah am Hafen, am Strand, und das Fenster stand auf. Hinter den Kulissen herrscht ein anderes künstlerisches Treiben von Orchestermusikern, Sängern, Tänzern und Schauspielerinnen, den Dirigenten und den Korrepetitoren, die die ganze Einstudierung sorgfältig übernehmen, und die Techniker, die Leiter. Das ist das dritte Mal in diesem Jahr, dass ich hinter den Kulissen eines Opernhauses lief oder spielte, in Nürnberg, Riga und Bremerhaven. Natürlich habe ich Würzburg nicht mit eingerechnet. All diese Häuser sind auch ähnlich, bis auf Würzburg. Was genau die Unterschiede zwischen Staatstheater, Stadttheater und Oper sind… In Würzburg ist das Theater eher wie ein flaches Kino mit niedrigem Luftdruck. Aber das Wichtige passiert innen.
Reife ist etwas Sensibles und nichts Festgelegtes.
In der modernen Oper Melusine von Reimann saßen wir in der 2. Reihe. Die zeitgenössische Musik ummantelt den Zeitgeist deutlich — Menschen, die nicht vertraut mit Oper und schon gar nicht mit Neuer Musik sind, schauen sich erst einmal irritiert um, ob dies alles seine Richtigkeit habe. Ich persönlich finde Neue Musik sehr interessant. Auch ich musste diesmal mein Programmheft währenddessen im Dunkeln lesen, obwohl ich die Oper in- und auswendig kennt. Es ist schön, die Menschen, die man kennengelernt hat, hinter den Kulissen plötzlich verwandelt auf der Bühne zu sehen. Künstler sind ein Geheimnis, sie gehen weit über das Irdische hinaus, da Kreativität nicht irdisch ist.
Es war wieder Aras Raum mit dem Yamaha-Flügel, an dem kein Klavierstuhl steht, sondern ein Drehstuhl. Es war ein Wunder, dass ich beim Spielen nicht wegrollte. An den Türen sind große Walfischaugen, kreisrunde Fenster, Bullaugen wie auf einem Schiff. Man sagte, man kann an meinem Klavierspiel hören, dass ich Lyrikerin sei, allein an meinen Händen, an meinem Anschlag könne man es sehen. Er hatte sich so gesetzt, dass er meine Hände sehen konnte. Er sagte, im Klang zwischen meinen Fingerkuppen auf den Tasten sei Leidenschaft. Er möge weder das Donnern noch das Säuseln mancher Pianisten. Ich würde das große Bild erkennen, Lyrik mit Rückgrat und Tiefe spielen, glockenhell und auch mit tiefem Bass, er würde selten so eine Energie in Lyrik hören. Er wollte auch meine Nationalität wissen, er dachte vielleicht, ich sei Schwedin und spreche sehr gut Deutsch. Da ich vorher in dem Raum geübt habe einige Stunden am Vormittag, habe ich barfuß Pedal getreten. Anschließend aßen wir in der Kantine des Theaters. Währenddessen läuft auf einem Bildschirm die Bühnenprobe, Durchsagen sind ein normales Hintergrundgeräusch. Es ist schön, wenn Technik und Kunst dicht zusammenfallen — das ist bei Kunst immer der Fall.
Meine Zeit ist zuende in Riga, ich fliege heute zurück nach Frankfurt, dann nach Mainz. Gestern besuchten Dace und ich das große ethnographische Open-Air-Museum am Jugla See, ähnlich wie in Litauen in der Nähe von Siauliai, in dem, da Muttertag, stundenlang lettische Tänze in traditionellen Gewändern aufgeführt wurden, Kokle-Spielerinnen zusammenspielten, wir lettisches Bier tranken, mit Prieka! anstießen und Pirags aßen, bevor wir zum internationalen Konzert in der Nähe der Musikschule per Taxibus fuhren. Konzerte und Meisterklassen sind vorbei. Am späten Abend feierten wir noch Abschied. In vier Stunden fliege ich los, wir frühstücken noch zusammen in der Musik-Akademie. Ich liebe das Improvisieren, denke an die Wale, die improvisierende Wesen sind, die ihre Lieder Ton für Ton wiederholen können, obwohl sie 30 Minuten lang improvisiert hatten – die singende Wale, wie liebe ich sie!
Die Improvisations-Meisterklasse in der großen weißen Agenskalns-Kirche am anderen Ende der Stadt und des Flusses war ein Genuss. Ich hatte einen kleinen braunen Flügel, einen Babygrand, und sprach in deutsch und englisch, da viele Amerikanerinnen da waren; Zaiga und Ilze übersetzten ins Lettische. Es war eine junge Russin da, die nur Russisch verstand, so wurde ich von Natalija Munda, einer jungen Komponistin, ins Russische übersetzt. Es ging dadurch alles ein wenig langsam und doch geordnet zu. Ich erzählte darüber, was für mich als Musikerin Kreativität bedeutet, sowohl in der Interpretation klassischer Werke als auch in ganz neuen, eigenen Wegen: in Komposition, Improvisation und Songwriting. Wie lange der Prozess bei mir gedauert hat, mich zu trauen, Neues zu wagen und zu finden, kreativ zu sein außerhalb von Leistungsdenken, Bewertung, Wettbewerben und Konkurrenz, mich zu lösen von der Norm, auch von den festen Rahmen von Musikhochschulen und CD-Einspielungen, wie etwas zu sein, zu klingen hat.
Für mich ist es besonders inspirierend und dringlich, zu jungen Musikern zu sprechen. Sie verstehen mich vielleicht noch einmal in einer ganz anderen Tiefe. Ich sprach auch davon, was für Regeln zu beachten sind, auch in Technik, Harmonien, in der Logik einer Sprache, da Musik Sprache ist, auch dort muss man Grammatik und Verben kennen. Zuerst übten wir, in zwei Harmonien zu bleiben und zu improvisieren.
Die Akkordeonistin improvisierte wunderschön und sang ein eigenes Lied dazu in wehmütigen, doch goldenen, hoffnungsvollen Klängen. Sie erzählte, sie hätte zuerst ein Bild im Kopf gehabt: Eine Prinzessin, die weint, die Tau auf ihrem Gesicht hat. Es kam ein Mann und sagte: Warum bist du so traurig, Prinzessin? Der Tau steht dir nicht. Aber die Sonne steht dir! Weine nicht mehr, die Strahlen der Sonne werden den Tau auf deinem Gesicht trocknen. — Aus diesem Bild entstand eine Melodie, dann der konkrete Text. Ich war überwältigt: es klang so schön in Lettisch.
Ein weiteres Puzzlestueck in meinem Leben wurde eingefügt und berührte meinen Geist.
Ich hätte nie gedacht, dass Akkordeon ein so herrliches Instrument ist und so gut harmoniert mit Klavier. Jedes Instrument ist eine Gabe des Himmels, wenn es gut gespielt wird — jedes Instrument. Liene erzählte mir, dass sie erst mit zehn Jahren begann, und da blieb für sie damals nur das Akkordeon übrig in der Musikschule. Und nun ist es ihr Instrument — ein seltenes. Es ist berührend zu sehen, wie diese zarte, kleine Frau ein so grosses Instrument beherrscht und auf den Knien hält. Da hat sich jemand was besonderes ausgedacht! Es ist nicht leicht, zu seinem eigenen Instrument zu stehen; es ist oft eine Art Hassliebe. Viele Musiker haben insgeheim eine Liebe, eine Sehnsucht zu einem anderen Instrument, zum Beispiel viele Geiger nach dem Klavier; viele Pianisten sehnen sich nach der Geige oder nach der Orgel, ich auch; man braucht zwei Instrumente.
Die Basis für die Improvisation ist natürlich die Stimme. Eine lettische Pianistin sang mit heller, fast schneidend schöner Stimme ein lettisches Lied. Ihre Klänge sind in angenehmer Weise melancholisch. Sie wiederum hatte zuerst die Melodie und dann den Text, allerdings fast gleichzeitig.
Mein Improvisationskurs Klavier war heute in Siauliai, Litauen:
Junge Menschen aus Kanada, USA, der Schweiz, Deutschland und Litauen kamen und hörten zu. Es ist erstaunlich, wie schüchtern und reserviert die Litauer teilweise sind. Auch die Schweizer sind eher still und abwartend. Dennoch spüre ich, wie wichtig es ist, was ich weitergeben möchte. Ich habe Deutsch und Englisch geredet und wurde ins Litauische übersetzt.
Die Fahrt von Lettland nach Litauen über die kleine Grenze eine Stunde hinter Riga lief ruhig und schön über Land durch Joniskis nach Siauliai (gesprochen showlay), der viertgrößten Stadt Litauens. Ich bin irgendwann im Auto eingeschlafen. Die drei Baltischen Länder sind nicht dicht besiedelt, überall viel grünes Land.
Der Tag, an dem ich in Riga ankam, war der erste schöne, sonnige Tag. Ab jetzt hatten wir nur wunderschönes Sonnenwetter, allerdings mit viel Wind. Die Winter sind hier noch oft sehr dunkel und kalt, und ist der Alkoholismus (und sogar noch das illegale Brennen von Branntwein) erschreckend.
In Litauen wohnen weniger als 10 Prozent Russen; das fällt auf in der Identität der Bevölkerung. Leider haben die Länder wenig miteinander zu tun; die osteuropäischen Länder oft generell weniger miteinander. Die Sprachen sind unterschiedlich, aber sonst haben sie eigentlich sehr viel gemeinsam. Die ausländischen Künstler hier haben es nicht leicht mit der Tatsache, dass sich die Balten nicht wiederum jemandem beugen wollen, weder den Deutschen noch den Russen noch der EU. Es dauert, bis Vertrauen aufgebaut ist.
Lettische und litauische Wohnverhältnisse zu sehen, ist berührend, sehr unterschiedlich. Zuvor habe ich eine Radtour mit den jungen Leuten der Kirche gemacht, wir sind 47 Kilometer insgesamt über Land gefahren durch Kairiai. Die Wege waren Sand, Schotter, Steine bei Gegenwind. Wir sind mit den Rädern zum Ferienhaus gefahren, haben dort gegrillt. Die Häuser hier sind sehr billig gewesen vor der Krise, mit Sauna und Ofen und Stall und Grundstück, wunderschön; er hat dort eine Stute, eine Hannoveranerin namens Wasera, und Ziegen. Ich habe das Pferd gefüttert und gestriegelt. Sie bekommt ein Fohlen. Wir haben in dem Haus übernachtet, es war kalt nachts, aber ein Holzhaus auf dem Land. Morgens merke ich die Stunde Zeitverschiebung, da ich immer von alleine aufwache. Wir machten Ausflüge nach Jurgaiciai, zum Hügel der Kreuze. Der Ort war mir unheimlich. Morgen nach dem Konzert in Ginkunai geht es weiter nach Telsiai und Degaiciai. Grenzen nicht akzeptieren?
Am 28. April geht mein Flug von Frankfurt nach Riga, und ich bin gespannt auf Lettland, im Vergleich zu Estland oder Litauen, die Länder im Baltikum, die ich bereits besucht habe. Ich mag diesen Teil der Welt, da er für mich eine so interessante Mischung verströmt aus Ost- und Westeuropa, so nah an Skandinavien und Russland.
In Tallin war ich und in Vilnius. Beide Male habe ich dort Konzerte gespielt. Ich bin gespannt, Riga zu sehen und werde dort bei einer befreundeten Pianistin wohnen während der Konzerte. Von Riga werde ich zu Konzerten nach Siauliai in Litauen abgeholt, circa 130 km von Riga entfernt.
Nach den Konzerten und Workshops werde ich meinen schwedischen Onkel Claes, seine litauische Frau Maryte und ihren Sohn (meinen Cousin) Claes Aleksas nahe von Telsiai in dem Dorf Degaiciai besuchen. Claes Aleksas ist sieben Jahre alt und spricht fliessend Schwedisch, Litauisch und Deutsch und nun bald Englisch. Er sieht aus wie Nils Holgersson. Das alte grosse Haus in Degaiciai steht auf einem wilden grossen Grundstück, bewacht von einem wilden Hund.
Die Verwandten von Maryte leben in Vilnius. Ich habe sie bereits letztes Jahr besucht, als wir, das Schlüter-Duo, Konzerte in Kaunas hatten. Ich bin gespannt auf das Leben in Siauliai und ihrer Kultur in den Gemeinden. Am 11. Mai bin ich zurück. Im Juni werde ich dann mit dem Schlüter-Duo in Calvi, Korsika, spielen und eine Woche am Meer bleiben. Bald spiele ich auch in Moskau.
Eine Künstlerin ist auf der Bühne eine Vermittlerin, und ein Vermittler ist immer ein Lehrer, eine Pädagogin, das geht weit über das Klavierspielen hinaus. Trotz der Ergänzung der Forschung und der Lehre ist es ein Privileg, aktiv und künstlerisch Menschenherzen zu berühren. Ich weiß dies mehr denn je zu schätzen.
Es wird viel gesprochen, sei es ein Treffen oder eine Vorlesung, und plötzlich höre ich Musik – es ist, als würde in meiner Seele ein Licht angeknipst, sie wird hell.
Dies ist die Sprache, die ich verstehe: helle Töne, helle Musik. Wenn ich draußen spazieren gehe, höre ich Musik überall, ich brauche keine explizit gespielte Musik. Es sind die Blumen, die Vögel.
Manchmal redet ein Mensch mit einer Stimme, die Musik ist, erzählt von Opern, Theatern oder Geschichten, bei denen äußerlich nicht viel passiert, doch die Innenbühne auf der Bühne zu fühlen ist. Ich kann die Sehnsucht der Musik im Gesicht spüren und in den Obertönen hören.
Sarospatak, Ungarn
Kunstgattungen und Musikstile sollten keine selbstgezüchteten Zäsuren pflegen, was nun echt oder unecht, falsch oder richtig ist. Sonst werden sie eine Religion, eine Ideologie, nur zugänglich für einen bestimmten Zirkel, für den die gewisse Ausübung und der Genuss der Gattung einem heiligen Akt, einer heiligen Handlung oder der Ausübung eines Sakramentes gleichkommt.
Alles, was derart über eine gesunde identitätsstiftende Abgrenzung und Meinung hinausgeht, artet aus, in eine Lobby oder Institution, in der es nur darum geht, Ideologien zu schmücken, gar noch mit Kunst, was gefährlich ist für eine freie und kreative Entwicklung.