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25. Juli 2020

Sollte es intelligentes Leben auf anderen Planeten geben, so gibt es ja die Chance, dass es das sogar bei uns gibt. (Royne Mercurio)

Es ist kaum zu fassen, wie unterschiedlich Bach Passacaglia gespielt wird. Die einen registrieren jede Variation, die nächsten spielen alles in einer Farbe durch. Dabei sind die unterschiedlichen, “widersprüchlichen”, “gegensätzlichen” Lager der Standpunkte sehr massiv. Die Standpunkte anderer werden als “unmusikalisch” und “falsch” abgewertet. Man würde das Konzert verlassen, wenn jemand die Passacaglia anders spielt, als man es selbst für richtig hält. Ich finde, alles hat seine Berechtigung, wenn man sehr gut spielt. Ich möchte nicht nur eine Fassung haben, sondern mich immer wieder neu dem Stück nähern.

Es ist doch eine Entwicklung im Leben. Das einzige, was ich unmusikalisch finde, ist, 40 Jahre lang das Gleiche und die gleiche Fassung zu spielen. Man muss sich doch Neuem öffnen, wachsen und andere Meinungen anhören und ausprobieren. Ich bin immer durstig, neue Ideen und Standpunkte zu hören, auch wenn es anfangs verwirrend ist. Irgendwo in all dem sitzt die Wahrheit und finde ich meinen Weg. Mir fällt dabei auf, dass manche, die “schon lange im Geschäft sind”, die Dinge, die ich schon gehört und erfahren habe, nie gehört haben und überrascht sind. Weil sie sich nie dafür interessierten und nur einer Lehrmeinung gefolgt sind, ihr ganzes Leben lang.

a) Es kommt auch immer auf die jeweilige Orgel an. Wenn man ein wunderschönes Plenum und eine wunderschöne Orgel hat, warum nicht alles in einer Farbe spielen, wenn man den Drive, das Know How und die musikalische Technik dazu hat? Bach hat die Variationen so abgestimmt komponiert, dass dies möglich und vielleicht sogar (vom Notentext ausgehend) so anvisiert worden ist von ihm – denn wie sonst sollte der Übergang zur Fuge gedacht bzw. möglich sein? Man müsste einen Takt hinzufügen, wenn man hier registrieren will. Dieser Übergang zur Fuge ist ein Hinweis darauf, dass nicht umregistriert werden soll.

Wenn man unmusikalisch spielt, kann es “grauenvoll sein, 14 Minuten lang Posaune und Plenum zu hören”. Allerdings kann dieses Stück für mich nie grauenvoll werden, egal, wie gespielt. Die Passacaglia ist das schönste Stücke, das ich kenne. Man kann es nicht verderben. (Ich kompensiere zudem in meinem Kopf und höre, was ich hören will.) Jedes Mal bin ich aufgewühlt und verschwitzt, wenn ich es übe.

b) Auf der anderen Seite kann man natürlich registrieren, denn es sind ja Variationen – wenn man es musikalisch und sensibel tut – nicht jede Variation vielleicht, außer man sitzt an einer “schlechten” Orgel, aber sich Punkte auswählen, wo es gut und geschmackvoll und passend ist, und dies mit der jeweiligen Orgel abstimmen. Man will ja keinen Flickenteppich haben. Wichtig hierbei ist immer die Ausgangssituation, mit welcher Farbe man die Passacaglia beginnt. Ist der Anfang tröstend, ist er schmerzvoll, ist er rau? Wie empfinde ich ihn heute? Das Stück bietet sich mir immer wieder anders dar, wie ein lebendiges Wesen. Ist der Anfang zärtlich, werbend, klagend oder dramatisch? Welche Kombination wähle ich? Eher piano oder forte? Das ist bei mir jedes Mal anders. Je nachdem, wie ich heute bin, wie das Stück heute ist, wie die Orgel heute ist. Wir sind alle drei lebendige Wesen. Und dies ist der Startschuss für meine Registrierung. Und dabei hat man immer Anfang und Ende einer Variation gleichzeitig im Kopf. Und vor allem die Fuge. In der Fuge zu viel zu registrieren finde ich eher bedenklich. Ich finde nicht, dass es nötig ist.

Es ist kaum zu fassen, wie unterschiedlich Liszt Ad nos gespielt wird und werden kann. Alle Begründungen sind nachvollziehbar und haben ihre Berechtigung. Ich könnte schon jetzt mindestens fünf unterschiedliche Fassungen spielen. Unterschiedlich sind sie in der technischen Herangehensweise, also in Artikulation (welches Legato, offen und pianistisch oder sehr dicht, wieviel Legato, was genau bedeuten die Bögen, wo setzt man ab und wie setzt man ab? Wie spielt man die Tonwiederholungen und Repetitionen, dicht oder ala Dupre…), aber auch in Agogikfragen, sehr stark abweichend in Registrierfragen, und auch, wie man es sich “leichter” machen kann, wenn Linien doppelt sind, und dann Basisfragen zur Umsetzung allgemein an der Orgel – was lange Töne, was Pausen etc. angeht… Welche Noten-Ausgabe (hier werden nur bestimmte Ausgaben von “Lagern” verwendet, dass es mir eher wie Politik vorkommt, nur um sich abzugrenzen), welche Zeit (28, 30, 34, original 45 Minuten), welche Tempi, eher Typus Orchester, eher Typus Klavier, was die Farben angeht. Ich finde alle Fassungen schön und berechtigt, wenn man es sehr gut (=musikalisch) und überzeugend spielt, an einer entsprechenden Orgel. Warum stur und festgefahren sein? Verrückt: Da wird wie wild transkribiert auf die Orgel, was auf den Flügel gehört, aber man schafft es nicht, originale Orgelwerke unterschiedlich zu interpretieren. Das passt nicht zusammen. Es ist schön, ein Orchesterstück daraus zu machen, wenn es die Orgel bietet, und schön, ein pianistisch-virtuoses Stück daraus zu machen, wenn man es kann. Schnelle und virtuose Tempi werden von den Organisten abgelehnt, die das selbst so nicht spielen können. Schön finde ich es, Gemeinsamkeiten zu finden – Dinge, die immer klar sind, für jeden, vielleicht sogenannte Wahrheiten.

Ich weiß noch gut, wie jemand zu mir sagte: “Ad nos ist ungefähr wie Liszt B-A-C-H, nur länger” – da dachte ich mir: Na, dann – und fing an. Jetzt “im Nachhinein” (ein paar Wochen später) denke ich mir, wie konnte man das zu mir sagen – das Stück ist mindestens dreimal so schwer und anspruchsvoll. Doch ohne diesen Satz hätte ich vielleicht nicht gleich begonnen.

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