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28. September 2021

Orgeln sind wie Wein, so unterschiedlich wie Wein. (AHS)
Heute Nordhausen. Lutherstadt. In der Kreisstadt Nordhausen (ehemalige Kaiserpfalz und freie Reichsstadt) sind zwar bei den Bombenangriffen in den letzten Kriegstagen fast alle Orgeln zerstört worden, aber in den beiden größten Kirchen gibt es gute neue Orgeln: In St. Blasii eine dreimanualige Orgel der Fa. Schuster, Zittau 1995, 3 Manuale, 37 Register; im tausendjährigen Dom eine Orgel von Johannes Klais (1996, 3 Manuale, 56 Register).
Heute besuchte und spielte ich die schöne große  Schuster-Orgel (Zittau) von St. Blasii Nordhausen: Die größte evangelische Orgel in Nordhausen (eine sehr hübsche Stadt mit Fachwerkhäusern voll Efeu „im Osten“). St. Nikolai wurde zerstört. Rückpositiv, Schwellwerk. Neobarock, jedoch weich, neu: mit romantischer Gambe und Schweller. Drei Manuale, 2. M ist HW, unten RP, schwarze „Lacktasten“, leichtgängig, doch hohe Obertasten, sehr lange Registerzüge, glitzernde Akustik. Die Kirche von 1234 (2004 saniert) ist hell mit steinernen Gurtbögen. Auf der grünen Empore steht die Orgel in Holz. Lutherweg Nordhausen. 
Jede Orgel hat ihr eigenes Gesicht. Die einen sind schrill, trocken, die anderen fruchtig, manche weich. Und zur Musikalität muss man ein Cockpit-Gedächtnis haben: Wie ist die Bank eingestellt, habe ich die richtigen Schuhe, Noten, Hose… wo ist was, wie weit weg ist was, kann ich es noch erreichen, wo ist das SW, wie ist die Anordnung … Der Spieltisch ist nicht die Orgel. Der Spieltisch ist nur das Cockpit.
Man kann hier an der gereinigten Schuster von 1995 wunderbar Bach spielen, aber auch Mendelssohn, sogar Liszt (jedoch Vorsicht, es gibt keine Setzeranlage, das hätte 50.000 € mehr gekostet. Das heißt, wenn man es alleine machen will, dann muss man sich beschränken). Ich mag jeden Tag einen anderen Wein. Warum sollte ich wie Kirchenmusiker 18 oder 24 Jahre lang den gleichen Wein trinken? Manche Orgeln haben etwas „Verstaubtes“, was aber total sympathisch ist. Andere sind etwas kalt und kühl von ihrer modernen Eleganz her. Wieder anders sind teure Oldtimer, die mehr „Sprit“ kosten als sich die Leute leisten können. Da kostet die Reinigung schon 100.000 €. Wie hier an der Klais Orgel im Dom. Immer spannend.
Die Kirche hat rotglitzernde Fenster.
Nordhausen besitzt tolle alte „Villen“ wie die Post und das Rathaus, vor dem „der Roland“ steht, der das Reichswappen mit dem Adler hält. Barfüßer Tor. Nordhausen wurde drei Wochen vor Kriegsende von den Amerikanern und Engländern total zerbombt, und es wurden dabei auch Zivilsten und Kinder ermordet.
Die Ossis sind ganz lieb und lustig.
Nach der Schuster spielte ich die große Klais Orgel im katholischen Dom Nordhausen, die größte Orgel in Nordhausen. Völlig andere Orgel, Johannes Klais 1964/1996. Der Dom ist wunderschön, helle Pfeiler, geschmückte Decke, wertvoller Altarbereich mit Holzschnitzereien. Krypta, Chorraum, Sandsteinfiguren, Wappen-Schlusssteine an der Decke. Enormer Nachhall (7 Sekunden). Die Orgel ist eine Wucht! Sie stammt aus Kassel und wurde nach Nordhausen verkauft. Sie ist eigentlich eine Konzert-Orgel. Oben ist das Oberwerk. Sie thront wie eine extra kleine Orgel oben auf der Orgel. Und eine extra Orgel sie ist, eine kleine extra Orgel. Sie wirkt süß da oben, aber hat enorme Power. Klein, aber oho. 3. Manual. Sie schallt direkt und ohne Abdeckung an die Decke und ist oft lauter als das Schwellwerk (1. Manual). Sie mischt sich nicht ganz so gut mit dem Rest der Orgel und hat erstaunlich wenig leise 8-Füße.
Der Prospekt ist sehr kreativ: Unter der kleinen süßen OW-Orgel zeigt sich das HW, darunter das rote Schwellwerk mit den 16-Füßen davor, und rechts und links das Pedal, die großen vorne und die kleinen Solostimmen dahinter. Die Orgel hat einen schönen sanften Schwung durch diese Aufteilung. Sie wurde sehr gut angepasst an die schwarzen Bänke hinten an die Hinterfront. Sie hängt tief, und der Spieltisch ist ebenerdig und exponiert. Daran sieht man deutlich den enormen Unterschied zwischen großer Orgel und dem kleinen braunen Spieltisch (dem Cockpit). Mein erster Gedanke war: Schneewittchen-Orgel: Schwarz wie Ebenholz ist die Zierdeleiste und die Bank, rot wie Blut das Schwellwerk, auch die Zierdefarbe, und „weiß wie Schnee“ die silbernen Pfeifen. Aufgrund des Nachhalls ist es wichtig, langsam und ruhig und „bodenständig“ zu spielen. Stretta geht hier gar nicht, vor allem nicht bei Fugen. Die „romantischen“ und ruhigen Werke Bachs klappen gut, Fugen und Virtuoses können anstrengend sein. Alle Läufe müssen mit Bedacht gespielt werden. Es gibt Walze und Schweller und 64 Setzer. Auch das Mischen der Farben braucht hier viel Erfahrung. Alle Register sind links, weiße Kippschalter. Dazu Vorpleno, Pleno, Zungen-Pleno, Tutti für jedes Werk. Morgen berichte ich weiter.
Die fluffigen Klangfarben sind mit zeichnenden schön zu mischen, das ist wichtig. Die Orgel besitzt trotz ihrer reichen Palette wenige (leise) 8-Füße. Das Pedal zeichnet schön und kann ohne Koppeln gut verwendet werden. Vorsicht vor Tutti-Knöpfen im Allgemeinen, besonders in starker Akustik. Lieber ein ausgewähltes Plenum nehmen. Es gibt auch eine Walze, die jedoch etwas springt und neu programmiert werden muss, da scharfe Register zu früh und zu abrupt gezogen werden und sich manche Register beißen. Erstaunlich finde ich, dass man wenig Walzen antrifft, die schön programmiert sind. An jeder Orgel muss man neu denken. Selbst wenn man kommt und seine Werke kann, ist damit oft nur die Hälfte geschafft, da eine Passacaglia von Bach hier ganz anders gespielt werden muss in starker ebenerdiger Akustik (ruhig, durchsichtig, aber nicht spitz) als in trockener Akustik. Kippschalter sind anders als lange Züge, die Anordnung sehr unterschiedlich…  
Nach dem Dom „Heiliges Kreuz“ besuchten wir das Haus von Christian Gottlieb Schroeter, Organist, der Bach verteidigt hat. Es wird renoviert. Lutherplatz.
Die Kantoren waren sehr nett. Danke auch an Manfred Machlitt und Team!
Die dritte Orgel heute hier im Südharz ist die kleine einmanualige Heinrich Deppe Orgel (Zweibrücken/Nordhausen, 19. Jahrhundert) in Obersachswerfen: St. Marien.

Die Orgel ist das lauteste und leiseste Instrument. (Spielerinnen gesucht)

Keine „Spielertypen“.
Diese kleine Dorf bei Liebenrode besitzt eine Kirche aus Bruchsteinen ohne Turm mit einer absolut niedlichen Dorforgel, 2000 restauriert. In den Dörfern ringsum gibt es manch reizvolle, meist einmanualige Orgel, oft kaum mehr spielbar.
Ich übernachtete beim Ritter von Lievenroth. Die Kirche St. Petri ist auf einem Hügel erbaut,
auf dem sich wahrscheinlich ein Heiligtum für den germanischen Gott Donar (Thor) befand. Im Pfarrhaus wurde um 1535 der Dichter Johannes Mylius geboren. Er wirkte später in Krakau, Litauen, Wien und an der Universität Jena. Außerdem die Gelehrten Martin und Johann Friedrich Schweser (17. Jh.). Letzterer war auch Lautenspieler, lebte später als Berater des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg in Bayreuth.
Knauf-Orgeln sind toll! Seit 1835 besaß die Petri-Kirche Liebenrode eine zweimanualige Orgel von Friedrich Christian Knauf (Groß-Tabarz/Gotha), die 1926 von Georg Kiessling (Bleicherode) umgebaut wurde und in den 1980er Jahren völlig verfiel. Das Dorf lag im Grenzgebiet, das Kirchendach stürzte ein, die Orgelpfeifen wurden geklaut. Nur Gehäuse und Prospekt blieben halbwegs erhalten, in die Thomas Hübener 2019 die Königsberger Strebel Orgel aus der Oberpfalz mühevoll einpasste. Er musste dabei einiges an der Strebel-Orgel verändern. Die Kirche ist von einer Mauer umgeben, eine Art Kirchenburg. Aber man kann über die nicht mehr sehr hohe Mauer in die Landschaft sehen, auf die Hainleite, ins Ohmgebirge (Eichsfeld).
Die Kirche ist innen schlicht, barocke Kanzel und Altar sind in den Nachkriegswirren
verschwunden. Mir gefällt sie so. Nichts lenkt ab, die Akustik ist angenehm, nicht zu hallig. Schnelle und filigrane Passagen verwischen nicht.
Es gibt hier einige interessante Orgeln, etwa in
Eichsfeld (St. Marien Heiligenstadt, Gebr. Späth, Fulda 1941), in Bleicherode (Friedr. Knauf, 1837;
erneuert von Robert Knauf, 1898, restauriert 2013 durch Fa. Brode, Heiligenstadt); dann die klassizistische Orgel in der Welfenstadt Herzberg (Nicolaikirche, Joh. Andreas Engelhardt, 1845; steht unter Denkmalschutz), die wunderbare Orgel von Christoph Junge (1681) in der Trinitatis-Kirche Sondershausen, der einstigen Hofkirche der Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen, einst von Andreas Werckmeister abgenommen
(3 Register aus der Bachzeit existieren noch, 1997 wurde die Orgel von der Fa. Hey (Rhön) modernisiert, 3 Manuale, 40 Register, Schwellwerk.
Im Kloster Walkenried (4 km von Liebenrode) gibt es eine neue Orgel (2017) von Jörg Bente (2 Manuale, 29 Register).
In Nordhausen gab es vom 17. – 19. Jh. mehrere Orgelbauer-Dynastien. Auch der Miterfinder des Hammerklaviers Christoph Gottlieb Schröter (1699 – 1782) lebte in der Stadt als Organist der Hauptkirche St Nicolai. Er war auchKomponist, Musiktheoretiker, Schriftsteller und Instrumentenbauer, entwickelte um 1717 nicht nur eine eigene Hammerklaviatur, die er am sächsischen Hof vorführte, sondern auch 1740 das Modell eines Schwellwerks für die Orgel. Er war mit Bach bekannt, schrieb für ihn 1749 eine Verteidigungsschrift im Streit mit Rektor Bidermann. Schröter ist leider fast vergessen.
Christoph Brückner möchte hier auch gleich konzertieren und schrieb meine Veranstalter an.

Johann Heinrich Deppeé Orgel 1824/2000 in Obersachswerfen

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