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30. Mai 2020

Über das Feld eines anderen rennt man; über das eigene geht man bedächtig. (Malaiisches Sprichwort)

Mein Lieblingsdirigent ist im Moment Paavo Järvi.

Bei Liszts Ad nos muss man insgesamt, wenn man ein schönes Legato spielen will, sehr locker und weich in Schultern, Armen und Handgelenken sein. Das Handgelenk muss wie ein schweres, tropfendes, passives Wesen sein, dass ich wie an einem Marionetten-Seil ziehe über die Tasten ziehen lasse. Man muss seinen Schutzinstinkt überwinden und die Schultern bei allen schweren Stellen und Großakkorden locker lassen. Sonst wird das Stück steif. Besonders der Mittelteil wird sonst in Kleinstteile zerfallen, da die Orgel ja an sich schon “steif” ist. Das Stück ist einfach himmlisch, wenn die großen Strukturen erhalten bleiben. Dann ist es dauerspannend. Ich habe das Vorrecht, dass ich das Flügelgefühl intus habe und dieses mit an die Orgel nehmen kann: Das Gefühl für Sostenuto-Pedal, Dynamik, das Schwelgen im Klang, das Flirrende, Virtuose.

Ingesamt machen zu viele Farben und Manualwechsel das Werk Ad nos zu kleinteilig. Dann fleddert es aus.

Und die Tempi sind nicht immer leicht zu wählen. Schön ist jedoch, dass vieles individuelle Entscheidungen sind. Es gibt oft kein Richtig oder Falsch hier. Es ist eine Sache des guten Geschmacks, der Orgel und der Erfahrung und auch der momentanen Gefühlslage.

Vorsichtig muss man mit Überlegato bei der Orgel sein und da sehr genau in den Raum hören und nicht in der motorischen Sinnlichkeit “stecken” bleiben. Es dürfen eben keine echten Dissonanzen entstehen, dazu ist die Orgel zu massiv. Das geht am Flügel gut, aber nicht an der Orgel. Die Dissonanzen werden sonst zu einer Art klanglichem Missverständnis.

Es ist schon wichtig, auch Romantik hervorragend an der Orgel spielen zu lernen, nicht zum Selbstzweck, aber um die Orchestrierung gut zu verstehen, die die Orgel unternimmt; ganz anders als am Flügel.

Schön finde ich, dass ich die Sprache der Dynamik sehr schön beherrsche (Flügel) und nun immer mehr verstehe und begreife, was die Sprache der Orgel-Artikulation meint, was im Grunde der Schlüssel zur Orgel ist. Man erlernt diese Fremdsprache nur durch Machen und Tun, viele Orgeln, es wollen, durch top Lehrer (geduldig und klug) und – durch Fehler machen. Ich habe vor allem durch Fehler Aha-Erlebnisse gehabt. “Aahhh, jetzt verstehe ich, warum….” Das vergisst man dann nie mehr. Man kann diesen Prozess auch nicht beschleunigen. Diese Sprache muss in Fleisch und Blut übergehen so wie die Dynamik-Sprache auch. Es muss so verstanden werden, dass es echt “angekommen” und verankert ist, auch motorisch und im Kopf. Man muss also Fehler machen dürfen. Sonst lernt man es nicht. Im Grunde gehört das ganze Legato-Thema bei Liszt (und Mendelssohn…) auch zum Artikulations-Thema der Orgel.

Vieles ist eben orgelspezifisch zu sehen, nicht “rein musikalisch”. Auch Staccato an der Orgel: Dass dies nicht zu löchrig oder zu ausgehungert klingt. Die Frage ist immer: Was wird verschmolzen, damit es decrescendo klingt, was muss abgesetzt werden etc. Hier gehen Artikulation und Dynamik so sehr Hand in Hand, dass die Artikulation im Grunde die Dynamik ist oder ersetzt, zur Dynamik wird. Das ist sehr spannend, fast unheimlich und geheimnisvoll für mich. Eine Synthese. Eine Synergie. Und dann die orgelspezifische Agogik, die zu dieser Synergie gehört. Alles dreht sich um die Dynamik, nicht um die Artikulation. Die Artikulation ist das größte Hilfsmittel zur Dynamik, nicht Schweller und Register. Die orgelspezifische Dynamik mit ihren orgelspezifischen “Hilfsmitteln”, das Umgehen mit dem Schweller, die “gelinden” crescendi… Zusammengefasst kann man sagen: So viel steifer die Pfeifen sind im Vergleich zu Saiten, so muss sich alles an Artikulation, Agogik und (die Hilfsmittel zur) Dynamik für die Dynamik anpassen. Da ich aber die reale, echte Dynamik-Sprache ohne Hilfsmittel sehr gut beherrsche, es sogar meine Stärke ist, so wie Virtuosität, besitze ich echte Musikalität, die der Orgel gut tut. Da viele (wenn nicht gar die meisten) Organisten die Dynamik-Sprache nicht beherrschen (von Virtuosität ganz zu schweigen), wirkt das Orgelspiel trotz allem oft unmusikalisch. Ohne Dynamik ist es ganz einfach auch unmusikalisch. Und mit Dynamik sind nicht die Hilfsmittel gemeint, die kompensieren sie niemals, sondern reale Farben in einem drin, aus der Seele kommend, aus den Fingern kommend, aus dem Drive.

Natürlich muss sich auch die Virtuosität der Orgel anpassen. Zu schnelle 32tel können verhuscht, zu schnelle Notenwerte gar rhythmisch falsch klingen. Schnelligkeit ist an der Orgel geradezu spiegelverkehrt oder eine “optische Täuschung”, oder besser, eine auditive Täuschung. Nur mit Weichheit kann man sich den mächtige Pfeifen nähern.

Was sehr gut tut, ist, Olivenöl auf den Arme zu verteilen, wenn man viel geübt hat. Das wird dann richtig warm auf und in den Armen. Olivenöl, Ingwer, Ananas und Kurkuma sollen gut gegen Entzündung sein. Vor allem, wenn man 7 Stunden geübt hat. Oder die Arme relaxed in die Sonne halten.

Ich liebe das Gefühl, wenn man so im Flow ist, an einer schönen Orgel sitzt und übt, dann denke ich manchmal die ganze Zeit, zB bei Liszt oder Bach: “Ach, ist das schön. Warum ist das so schön?” Schön finde ich auch, in Räumen zu üben, wo es eine Orgel und einen Flügel gibt. Da fühle ich mich besonders zuhause.

Wenn man den ganzen Tag geübt hat: Schön ist auch, wenn man, um die Daumen zu lockern, die ganze Handfläche weich, offen hält und aktiv, nicht nur die Finger. Und sich beim Ausruhen an die Schwerkraft abzugeben. Wobei für mich die Schwerkraft Gott ist.

Ich bin daran gewöhnt, meine ganze Lust auf Bewegung beim Üben und Spielen am Instrument auszuleben. Da ich sonst so wenig Sport mache, als Ausgleich. Manchmal bin ich dann mehr in der sinnlichen Bewegung als im Hören. Aber ein Instrument spielen ist eben nicht Tanzen. Man braucht eher minimalen Kraftaufwand, auch um sich zu schonen, und die ganze Aufmerksamkeit auf das Hören und das planvolle Denken gerichtet. Auf die Architektur. Ich bin ein Bewegungsmensch.

Es ist immer noch sehr trocken. Sobald ich lüfte, geht die Luftfeuchtigkeit drastisch nach unten. Als wäre draußen Schmiergelpapier. Ich war immer ein Lüfte-Mensch. Seit dem Cembalo bin ich ein Luftfeuchtigkeitsmensch. Stundenlang das Fenster aufhaben geht nicht mehr. Jedenfalls nicht, wenn es so trocken ist.

Eine Antwort auf “30. Mai 2020”

  1. Andreas Friedrich

    Von all dem, was du über deine Musik veröffentlichst: Böhmische Dörfer. Doch der Bewegungsmensch bin auch ich. Ungenutzte Lebenszeit. Fehlanzeige. Selbst wenn ich auf dem Balkon sitzend die Sterne beobachte, kommt in mir das Fernweh nach meinen Griechischen Inseln auf. Hast du das Überleben deiner Instrumente gesichert? Falls irgendwann der Spuk um Covid-19 vorbei sein sollte freue ich mich riesig darauf, mit dir italienisch in Würzburg (oder an irgendeinem Ort unserer Welt) essen gehen und dich kennenlernen zu dürfen. Falls du dies möchtest ….?

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