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24. April 2020

Erst der Live-Kontakt ist eine Begegnung. (AHS)

So steht es in meiner Dissertation. Da habe ich noch nichts von Corona gewusst. Ich hatte schon immer ein prophetisches Händchen.

Es ist doch sehr nett mit Skype und Zoom, auch diese großen Meetings. Ich kann in meiner bequemen Lieblings-Kleidung an den Meetings teilnehmen, zum Beispiel in meinem gemütlichen Herz-Fleece-Anzug. Ich habe zwar das Gefühl, ich bin die einzige, die das macht, aber das stört mich nicht.

Bei Skype und Zoom ist es übrigens gut, wenn man nur viele 8-Füße verwendet, keine 4 und 2 und keine Mixturen, also kein Plenum, das verzerrt das Klangbild. Zudem ist es gut, wenn man immer eine Schwebung verwendet. Das macht es seltsamerweise klarer für die andere Seite. Und möglichst trocken! Man kann die Sample-Sets bei Hauptwerkorgeln individuell mit und ohne oder weniger Hall loaden.

Heute war der glorreiche Tag, dass ich anonyme Beschwerden vorfand in meinem Briefkasten, aus meiner Wohnung würde immer “laute Orgel- und Kirchenmusik dringen”. “Schon ab 7:45!” Ich bin begeistert, dass aus meiner Wohnung “Kirchenmusik” dringt und strömt, fühle mich geehrt. Meine Nachbarn hören Salsa-Musik. Und zwar wird dieser Salsa-Rhythmus über alles gekippt wie Currysauce über jedes Essen (was ich auf dem Balkon hören kann), sogar über Schokolade, Spargel, Bärlauch und Forelle: Salsa-Rhythmus zu Jazz, Salsa-Rhtyhmus zu The Pink Panther, Salsa-Rhythmus auch zu Bach, wenn ich gerade übe. Und unweigerlich kommt der Moment in jedem Song (wahrscheinlich der Höhepunkt), wo der Standard-Konserven-Salsa-Rhythmus an scheppernde Kuhglocken auf der Alm erinnert.

Das erinnert mich an meinen lieben Klavier-Prof. in den USA, der dachte, an seinem Auto wäre etwas kaputt, weil der Fahrer neben uns laut Salsa-Musik hörte. Ich habe mich kaputt gelacht. “This music makes me think that there is something wrong with my car”.

Ich habe darüber nachgedacht, wie seltsam eigentlich der “Orgel-Sprech” ist: Eines der Hauptmerkmale und Lieblingsworte dieses Orgel-Sprechs ist: Artikulation. Hier geht es nicht um intelligente Artikulation, sondern um ein Füllwort, das für alles herhalten muss. Eine Floskel. Das Wetter ist heute schlecht? Artikulation. Jemand hat Durst? Artikulation. Wie drücke ich dies musikalisch aus? Artikulation. Kurz: Für viele Organisten gibt es nur a) Legato oder b) Artikulation. Als ob Artikulation nichts mit Legato zu tun hätte, als wäre Artikulation das Gegenteil von Legato! Als wäre Artikulation ein Synonym zu Absetzen. Absolut nicht. Einem Pianisten  würde es nicht im Traum einfallen, so zu denken. Es gibt artikuliertes Legato: Dichtes und weniger dichtes Legato, sattes Legato, markiertes Legato – viele Möglichkeiten und Schattierungen, Legato auszuführen. Legato ist ein wichtiger Teil von Artikulation, kein Gegensatz dazu. Am Anfang, als ich neu war und fragte: “Wie wird das hier gespielt?”, sagte man mir: “Das hier wird artikuliert gespielt”. Ich dachte damals schon: What?

Statt Non Legato und Portato wird bei Organisten einfach nur das Wort Artikulation verwendet. Ich habe bei Organisten fast noch nie das Wort Portato gehört. Viele wissen nicht, dass dieses existiert.

Ich glaube, es liegt daran, dass Organisten das Legato am Klavier nicht kennen. Das dynamische, das fliegende, das strömende Legato am Flügel. Das sostenuto-Legato oder das flirrende mit unacorda und Mittelpedal. Natürlich ist das Legato an der Orgel anders, sachlicher, klarer, nüchterner; die Mittelstimmen an der Orgel  müssen angepasst werden an die Oberstimme, dürfen nicht kürzer sein und “fliegen” wie beim Flügel, wo jeder Ton vibriert und ein automatisches Decrescendo besitzt. Dennoch: Musik nur auf Legato oder Artikulation zu begrenzen ist schon sehr dürftig. Und das ausgerechnet bei der Orgel! Dem Orchester im Instrument! Wie will man mit diesem Verständnis Mendelssohn spielen? Wie will man das Legato bei Mendelssohn verstehen oder seine Bögen? Es gibt bei Mendelssohn ein Legato im Legato, so etwas wie ein Grundgedanke Legato, und ein Geigenbogen-Legato. Kein Wunder, dass, wenn man dies nicht kennt, die Phrasierung so oft falsch gemacht wird. Ich bin übrigens völlig verliebt in Mendelssohns vierte Sonate. The best!

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