Manchmal vermischen sich Tag und Nacht, und mein absolutes Gehör leidet beim Auswendiglernen blutend an verstimmten Klavieren und an Lärm. Die Nacht vergeht, wenn ich schlafe, wie eine Minute, und Tag deckt sich mit Nacht. Es ist anstrengend, mindestens viererlei zu tun: konzertieren, lernen, studieren, üben, arbeiten, schreiben. Obwohl meine Hände klein sind, sind sie doch sehr trainiert und fallen auf den ersten Blick manchmal nicht als klein auf. Doch schmerzen sie schon nach vielen Üben hin und wieder, sie kommen mir dann vor wie kleine Bällchen in Pergamentpapier gewickelt, und die Adern auf meinen Handrücken scheinen zu seufzen.
Wenn ich dachte, dass im künstlerischen Bereich viel Konkurrenz sei, da habe ich nicht gewusst, was für ein Konkurrenzdruck im wissenschaftlichen Bereich vorliegt.
Gerade die Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft finde ich spannend, auch zwischen der historischen und der systematischen oder psychologischen Musikwissenschaft von Universität und Musikhochschule.
Meine Zeit ist zuende in Riga, ich fliege heute zurück nach Frankfurt, dann nach Mainz. Gestern besuchten Dace und ich das große ethnographische Open-Air-Museum am Jugla See, ähnlich wie in Litauen in der Nähe von Siauliai, in dem, da Muttertag, stundenlang lettische Tänze in traditionellen Gewändern aufgeführt wurden, Kokle-Spielerinnen zusammenspielten, wir lettisches Bier tranken, mit Prieka! anstießen und Pirags aßen, bevor wir zum internationalen Konzert in der Nähe der Musikschule per Taxibus fuhren. Konzerte und Meisterklassen sind vorbei. Am späten Abend feierten wir noch Abschied. In vier Stunden fliege ich los, wir frühstücken noch zusammen in der Musik-Akademie. Ich liebe das Improvisieren, denke an die Wale, die improvisierende Wesen sind, die ihre Lieder Ton für Ton wiederholen können, obwohl sie 30 Minuten lang improvisiert hatten – die singende Wale, wie liebe ich sie!
Zaiga (Zaiga mit weichem s ausgesprochen; im Schwedischen gibt es kein weiches s), Kokle-Spielerin, wird mich heute und morgen auf dem Meisterkurs ins Lettische übersetzen. Mir ihr bin ich gestern durch das nächtliche Riga geschlendert. Leider gibt es keinen lettischen Wein.
Wenn statt Englisch und Schwedisch in meinem Kopf vermischt, mein Gehirn allmählich versteht, was was ist und ich in Schwedisch nun zu denken beginne, freue ich mich. Die lettische und litauische Volksmusik berührt mich sehr. Ich liebe es, neue Klänge zu hören. Volksmusik und Chormusik formen eine Nation.
Maya von Patel schreibt: „Die Seele eines Landes liegt in ihrer Musik. Ein Land, welches seine Musik verkauft, ignoriert oder dem Kommerz preisgibt, verdient es, Coca Cola als Folge zu haben.“
Es macht Spaß, mit Dace Violin-Stücke vom Blatt zu spielen im Herzen von Riga, denn Riga ist so romantisch in sich, an sich, dass auch ein verstimmtes Klavier nicht stört: Wokaliza von Rachmaninov, russische Komponisten. Auf dem Turm der St Petera Baznica stand ich zwischen Schweden und Deutschen und innerlich symbolisch zerrissen. Wie angenehm der schwedische Klang, die Melodie ist — eine Offenbarung, sie zu verstehen. Die Gruppe der Sachsen und Deutschen dagegen klang so hart und konservativ, dass ich abgeschreckt war. Warum sage ich eigentlich nicht, dass ich schwedisch-deutsch bin? Das stimmt genauso. Kommt mein Fernweh vielleicht daher, dass ich eigentlich schwedisch bin und im falschen Land wohne? Eine Sprache macht sich nicht nur durch Worte aus, es sind auch die Schnauber durch die Nase, sogar das Seufzen, dass im Schwedischen so anders und weich klingt. Daher formt eine Sprache das Herz des Menschen, des Landes. Dennoch liebe ich Deutschland und werde es nicht verraten. Da stand ich mit meiner schwedischen Tasche zwischen Russen, Japanern, Amerikanern. Als ich die Kirche verliess, kam mir ein Mann entgegen und murmelte: ah, svenska — als er mich sah.
Ich lief über eine der großen Brücken, die Steinbrücke, die sich über den breiten Daugava Fluss spannt hinter dem Ocupation-Museum, und kam mir vor wie damals New York, auf der Washington Bridge über den Hudson River, nur dass diese Brücke viel niedriger war.
Ich liebe Brücken trotz Höhenangst. Dort, wo Wind und Sonne die Wasseroberfläche berühren und küssen, antwortet sie mit vielen Lippen und Mündern, die sich immer wieder neu formen und Gold auf ihren Rändern zeigen. Eigentlich ist diese Schönheit zu verwirrend, zu viel für einen Menschen: die Antwort des Wassers auf Sonne und Wind — und doch nur sichtbar, wenn ein Mensch genau hinsieht. Es gibt so viel überwältigende Schönheit, die noch nicht wahrgenommen wird.
Rigas Geschichte ist schwer und traurig, denn erst 1991 war Lettland eine freie Nation, also lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Zaiga hat als Kind noch erlebt, dass das Ausland Russland war und die Grenzen zu.
Zurück spazierte ich die Freiheitsstrasse am Park entlang, die Brivibas Allee. Wie schön, dass auch Riga eine Freiheitsstatue hat.
Ich kenne mich mittlerweile in dieser Fast-Millionen-Stadt ganz gut alleine aus, zu Fuß und mit Tram. Und wenn ich einmal alleine bin, dann rufen sich Zaiga und Ilze gegenseitig an, ob ich wann und wo und wie gut angekommen bin. Ein Lit ist mehr wert als ein Euro, und 3.50 Lit sind schon über 5 Euro, während es in Litauen genau anders herum ist, 3.50 Lat sind erst ein Euro — wenn man zwischen diesen Ländern hin und her pendelt, darf man da nicht durcheinander kommen, da die Dinge, die man für umgerechnet 5 oder 1 Euro kaufen kann, oft auch noch gleich sein können.
Die meisten Balten haben untereinander kaum etwas miteinander zu tun. Unser Lieblingsplatz ist ein kleines zweistöckiges Teehaus mit großen Glasfenstern in der Nähe der Akademie und der Oper am Vermanis Park. Man trinkt im Liegen auf dicken Kissen seinen Tee, isst Schokolade mit Honig und schläft fast ein oder sieht auf den Kanal von Riga und die kleinen Boote. Der Strand von Jurmala ist einsam und wundervoll, die Stadt selbst ein kleiner Kurort, das „russische Paradies“ mit sehr wertvollen Häusern und Autos von reichen Russen, das schockierende Gegenteil vom Zugbahnhof in Riga, auf dem ich viele Arme, Resignierte und Betrunkene gesehen habe; in den Zügen, in die man hineinklettern muss, verkaufen sie in langen russischen Litaneien Zeitungen, Eis, Blumen. Bevor ich verstand, dass die Quittung mein Zugticket war, hatte ich beinahe mein „Ticket“ weggeworfen. Wir fuhren über den großen Daugava, der viel größer noch ist als der Rhein, und den Lielupe (Großer Fluß), der direkt ins Meer fließt. Als Zaiga und ich in Jurmala ankamen, trafen wir auch auf einen menschenleeren Strand, da die Saison erst im Juni beginnt. Es war sonnig und windig, Bernstein wird wohl in Massen an den Strand gespült laut den Geschäften. Es tut mir gut, schweigend auf das Meer und in den Himmel zu sehen und das Rauschen der Wellen zu hören. Ich mag das Beängstigende, Gezähmte des wilden Meeres, als hätte Gott es nur angestupst und nun rollt es von alleine. Immer noch spüre ich dumpfes Fernweh, wenn ich in der Ferne Schiffe sehe, noch dazu, wenn ich weiß, dass hinter dem Horizont Skandinavien liegt.
Mein Improvisationskurs Klavier war heute in Siauliai, Litauen:
Junge Menschen aus Kanada, USA, der Schweiz, Deutschland und Litauen kamen und hörten zu. Es ist erstaunlich, wie schüchtern und reserviert die Litauer teilweise sind. Auch die Schweizer sind eher still und abwartend. Dennoch spüre ich, wie wichtig es ist, was ich weitergeben möchte. Ich habe Deutsch und Englisch geredet und wurde ins Litauische übersetzt.
Die Fahrt von Lettland nach Litauen über die kleine Grenze eine Stunde hinter Riga lief ruhig und schön über Land durch Joniskis nach Siauliai (gesprochen showlay), der viertgrößten Stadt Litauens. Ich bin irgendwann im Auto eingeschlafen. Die drei Baltischen Länder sind nicht dicht besiedelt, überall viel grünes Land.
Der Tag, an dem ich in Riga ankam, war der erste schöne, sonnige Tag. Ab jetzt hatten wir nur wunderschönes Sonnenwetter, allerdings mit viel Wind. Die Winter sind hier noch oft sehr dunkel und kalt, und ist der Alkoholismus (und sogar noch das illegale Brennen von Branntwein) erschreckend.
In Litauen wohnen weniger als 10 Prozent Russen; das fällt auf in der Identität der Bevölkerung. Leider haben die Länder wenig miteinander zu tun; die osteuropäischen Länder oft generell weniger miteinander. Die Sprachen sind unterschiedlich, aber sonst haben sie eigentlich sehr viel gemeinsam. Die ausländischen Künstler hier haben es nicht leicht mit der Tatsache, dass sich die Balten nicht wiederum jemandem beugen wollen, weder den Deutschen noch den Russen noch der EU. Es dauert, bis Vertrauen aufgebaut ist.
Lettische und litauische Wohnverhältnisse zu sehen, ist berührend, sehr unterschiedlich. Zuvor habe ich eine Radtour mit den jungen Leuten der Kirche gemacht, wir sind 47 Kilometer insgesamt über Land gefahren durch Kairiai. Die Wege waren Sand, Schotter, Steine bei Gegenwind. Wir sind mit den Rädern zum Ferienhaus gefahren, haben dort gegrillt. Die Häuser hier sind sehr billig gewesen vor der Krise, mit Sauna und Ofen und Stall und Grundstück, wunderschön; er hat dort eine Stute, eine Hannoveranerin namens Wasera, und Ziegen. Ich habe das Pferd gefüttert und gestriegelt. Sie bekommt ein Fohlen. Wir haben in dem Haus übernachtet, es war kalt nachts, aber ein Holzhaus auf dem Land. Morgens merke ich die Stunde Zeitverschiebung, da ich immer von alleine aufwache. Wir machten Ausflüge nach Jurgaiciai, zum Hügel der Kreuze. Der Ort war mir unheimlich. Morgen nach dem Konzert in Ginkunai geht es weiter nach Telsiai und Degaiciai. Grenzen nicht akzeptieren?
In ein paar Stunden geht es schon nach Triefenstein, poetisch, wie ich finde, da hier der Stein trieft. Oder weint. Überall entspringt Wasser aus den Felsensteinen. Das war früher sicher nicht leicht zum Lagern von Dingen. Es ist ruhig und edel und wie eine Burg, ich komme mir fast wie ein Burg-Fräulein vor. Die Brüder sind 12 an der Zahl, normal gekleidet, freundlich und locker, fast jeden Alters, sehen richtig nett aus, evangelisch, spontan im Gebet und sehr natürlich. Ich spiele jeden Tag, letztes Mal viele CDs verkauft. Es ist schön, erkannt zu werden. Ich habe viele Spaziergänge gemacht und hatte gute Gespräche.
Es ist seltsam, wieder zuhause zu sein. Meine Straße kommt mir vor wie ein wuselnder und dennoch ruhiger Punkt. Es macht wirklich Spaß, Sax zu spielen. Ich habe ein silbernes C-Melody (als Absoluthörerin) von Selmers New York in einem alten Selmers Koffer mit lila Samtfutter innen. Und ein amerikanisches Alt-Sax (Martin), verschnörkelt und in Gold, mit einem roten Koffer. Das C-Melody-Mundstück funktioniert nur mit einem wirklich harten Blatt. Dann aber klingt der Ton weich, sympathisch und singend. Meine Gitarre, ebenfalls eine Martin, ist ebenfalls sehr schön.
In einer mittelalterlichen Disputation waren jüdische Menschen gezwungen, in der Karwoche vor dem kirchlichen Tribunal zu erscheinen.
Eine falsche Antwort konnte den Tod bedeuten. Auf die Frage des Bischofs Grotius, ob der Messias schon gekommen wäre, sah man plötzlich Salomon Levy vortreten. Schmächtig wirkte er in seinem schwarzen Gewand. Hüstelnd vor Angst sagte er: “Edle Herren, die Propheten haben doch gesagt, dass bei der Ankunft des Messias Weinen und Klagen aus der Welt verschwinden würden.
Dass alle Völker ihre Schwerter zerbrechen würden, um daraus Pflugscharen zu gießen. Ach, was würde man sagen, wenn Ihr vergäßet, wie man Krieg führt?”
Eine Künstlerin ist auf der Bühne eine Vermittlerin, und ein Vermittler ist immer ein Lehrer, eine Pädagogin, das geht weit über das Klavierspielen hinaus. Trotz der Ergänzung der Forschung und der Lehre ist es ein Privileg, aktiv und künstlerisch Menschenherzen zu berühren. Ich weiß dies mehr denn je zu schätzen.
Es wird viel gesprochen, sei es ein Treffen oder eine Vorlesung, und plötzlich höre ich Musik – es ist, als würde in meiner Seele ein Licht angeknipst, sie wird hell.
Dies ist die Sprache, die ich verstehe: helle Töne, helle Musik. Wenn ich draußen spazieren gehe, höre ich Musik überall, ich brauche keine explizit gespielte Musik. Es sind die Blumen, die Vögel.
Manchmal redet ein Mensch mit einer Stimme, die Musik ist, erzählt von Opern, Theatern oder Geschichten, bei denen äußerlich nicht viel passiert, doch die Innenbühne auf der Bühne zu fühlen ist. Ich kann die Sehnsucht der Musik im Gesicht spüren und in den Obertönen hören.
Sarospatak, Ungarn
Kunstgattungen und Musikstile sollten keine selbstgezüchteten Zäsuren pflegen, was nun echt oder unecht, falsch oder richtig ist. Sonst werden sie eine Religion, eine Ideologie, nur zugänglich für einen bestimmten Zirkel, für den die gewisse Ausübung und der Genuss der Gattung einem heiligen Akt, einer heiligen Handlung oder der Ausübung eines Sakramentes gleichkommt.
Alles, was derart über eine gesunde identitätsstiftende Abgrenzung und Meinung hinausgeht, artet aus, in eine Lobby oder Institution, in der es nur darum geht, Ideologien zu schmücken, gar noch mit Kunst, was gefährlich ist für eine freie und kreative Entwicklung.