Startseite Nach oben

25. Mai 2009

Bremerhaven

Von den bulgarischen Sängern erfuhr ich, dass Russland ihr Alphabet übernommen hätte und dass wir Deutsche in Wien Piefke heissen. Um uns herum lag ein ruhiges internationales Bremerhaven, dass offensichtlich nicht daran interessiert war, 60 Jahre Grundgesetz zu feiern.
Am nächsten Tag besuchte ich das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven. Ich verbrachte dort fast drei Stunden und hätte beinahe meinen Zug verpasst- es war ein Wunder, dass ich ihn noch erwischt hatte — ich kam 12:32 am Bahnhof an, und mein Zug ging um 12:28.

Aber dieses Museum zeigte mir, was der Sinn eines Museums ist, da Fernweh, Heimweh und die Suche nach Heimat an persönlichen Einzelschicksalen aufgezeigt wurden. Atmosphäre und Stimmung mischten sich mit Information. Über sieben Millionen Menschen sind bis heute ausgewandert oder geflüchtet, in grossen Emigrations-Schiffen, aus Bremerhaven auslaufend. Noch nie hatte ich das Ausmaß des Zweiten Weltkrieges so deutlich verstanden wie an diesem Morgen, obwohl ich mich nun so eingehend jahrelang mit den Weltkriegen und Deutschlands Geschichte beschäftigt hatte. Ich musste drei mal weinen in diesem Museum, vor allem, als ich ankam in der Neuen Welt, in den USA, und Dvoraks Sinfonie Neue Welt lief. Ich bemühte mich, alle Schicksale zu hören; es dauerte sehr lang. Ein Leben berührte mich besonders, das Leben einer jungen Ärztin, die 1933 alles verloren hatte und um das Leben ihrer Kinder bangen musste. Sie hatten kein Geld, obwohl sie reich war; die Nachbarsländer und Grenzen waren zu und selbst, als jedes Jahr lebensgefährlich wurde, bestand die USA auf Wartezeiten, Papiere und Bürgschaften zur Einreise. Dennoch hatten sie es geschafft nach Jahren der Qual, und sie standen vor dem Nichts, als sie endlich in den USA ankamen. Selbst die Schiffsüberfahrt war ein Tortur. Auf der Freiheitsstatue stand: Willkommen, ihr Massen an Sehnsucht, ihr, die keiner sonst will. Ich war berührt von dem Mut dieser Frau. — Ich kann nachvollziehen ein Stück weit, was es bedeutet, alles zu verlieren, machtlos zu sein, loslassen zu müssen, vor dem Nichts zu stehen, keine Vergeltung fordern zu können, keine Gerechtigkeit zu spüren und dennoch das Land zu lieben, zu brauchen. Und dabei war es noch das Leben, mit dem sie davon kamen. Andere verloren selbst das. Wer war diese Frau? Da ich keinen Stift hatte, wollte ich mir ihren Namen merken — dann stellte ich fest, dass zufällig genau ihr Name auf meiner Eintrittskarte stand — denn, das hatte ich vergessen, jeder war einer bestimmten Person von damals zugeteilt worden. Ihr Name ist Hertha Nathorff.

Laisser un commentaire

Votre adresse e-mail ne sera pas publiée.