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07. Mai 2009

Klaipeda und Nida

Der Bus von Klaipeda über Siauliai nach Riga brauchte fast 5 Stunden. Ich schlief die ganze Strecke. Nur als wir über die Grenze fuhren, wachte ich auf. Dabei kenne ich die kleine Grenze ja längst. Gestern abend zeigte mir Dace (Daze ausgesprochen) das Opernhaus in Riga. Es ist groß, weiß und wunderschön. Dace spielt im Orchestergraben in der Gruppe der ersten Geiger. Die Pianistin Ilze, die aus Cesis kommt, und ich wohnen bei ihr. Dace führte mich in die Künstlerkantine, wir tranken etwas zusammen mit der Pianistin des Opernhauses, die sehr gut Deutsch spricht. Beide haben früher hier in der Akademie in Riga studiert. Es erinnerte mich an das Nürnberger Opernhaus, in dem meine Schwester Violine spielt. Sie ist auch Geigerin der ersten Geiger. Ich sah gestern das russische Ballett The Fountain of Bakhchisary von dem Komponisten Boris Asafjev. Eine traurige, aber ergreifende Geschichte; eine Legende.

Als mich Dace während der Pause in den Orchestergraben führte, sah ich all die großen und dünnen Tänzerinnen, die für den zweiten Teil als Bauchtänzerinnen gekleidet und sehr geschminkt waren. Sie machte ein Foto von mir, als ich auf das Dirigier-Podest kletterte und ein unsichtbares Orchester dirigierte.

Gestern noch bin ich auf der Kursiu Nerija aufgewacht (Kurische Nehrung), der Halbinsel-Zunge im Baltischen Meer, oder für uns Ostsee, die sich bis nach Russland hinstreckt, so nah an der Russischen Grenze. Die große Sanddüne, die Parnidener Düne in Nida, früher Nidden, alles ehemalig deutsches Gebiet, ist nur zwei Kilometer von der russischen Grenze entfernt, allerdings vom winzigen, verstreut liegenden Teil von Russland: Kaliningrad. Ich dachte noch kurz daran, ob ich vielleicht über die Sanddüne heimlich nach Kaliningrad wandern könnte.

Nach Nida zu kommen, ist eine Art Odyssee. Zuerst fuhr ich von meinen Verwandten früh mit dem Zug von Telsiai nach Klaipeda. Dann mit der kleinen Fähre über den Fluß Dane, der bereits zum Meer gehört, auf die Kurische Nehrung. Es ist noch nicht Saison und es war unterhalb der Woche, so dass ich die einzige war. Keiner spricht dort Englisch. Man kommt mit Deutsch etwas besser voran. Der Strand in Smiltyne war menschenleer. Es war trotz Sonnenschein sehr windig. Ich legte mich in den Sand, mit dem Gesicht in die Sonne. Ein langer, menschenleerer Strand um mich rum und rauschende Wellen im Wind, der meinen weißen Rock aufblähte.

In Smiltyne traf ich zwei Russinnen, die in Oslo Kunst und Journalismus studieren. Sie fuhren nach Hause. Sie hatten Ferien. Die eine fuhr nach Minsk und die andere nach Kaliningrad. Der Bus nach Kaliningrad stand neben meinem nach Nida, zum Greifen nah. Eine Minute lang dachte ich, ich wechsle den Bus und fahre mit ihnen nach Kaliningrad. Ich fühlte wieder die Sehnsucht nach Russland. Von Kaliningrad war es nur ein 40-Minuten-Flug nach Weissrussland. Ich bräuchte also zwei verschiedene Visa. Sie sprachen Schwedisch-Norwegisch mit mir, und ich antwortete in Englisch. Verstehen ist leichter als Sprechen. Wie schön klingt Schwedisch auch mit russischem Akzent! Wie schön muss es sein, eine Weile in Stockholm zu arbeiten!
Von Smiltyne fuhr ich mit dem Bus in die größte Stadt der Kursiu Nerija (auch Landbrücke genannt), nach Nida — über Preila und Pervalka, vorbei an den ‘toten Dünen’. Das berühmte Dolphinarium hatte leider geschlossen.

Nida selbst erinnert mich an die Nordseeinseln Langeoog und Juist, auf denen ich mit meiner Familie als Kind jedes Jahr gespielt habe. Die kleine Stadt mit circa 2000 Einwohnern liegt direkt am Kurischen Haff, einem Teil der Ostsee, mit Sandstränden, niedlichen bunten Häusern, frischer Luft, wenigen Autos, dafür Pferdekutschen, schwedische rot-weiße Häuschen mit Sauna, viele Fischerboote, große Sanddünen, viele Kiefernwälder.

Thomas Mann war hier in Klaipeda 1930-1932. Ich habe sein Haus besucht, froh, dass es geöffnet war außerhalb der Saison. Eine Frau zeigte mir persönlich alles, sprach fließend Deutsch. Sie erzählte mir viele Dinge, die ich noch nicht wusste. Er war verheiratet mit einer Jüdin und verließ schon 1933 Deutschland, emigrierte nach Amerika. Ich wurde plötzlich traurig. Hätten das doch alle gemacht! Es bedeutete, dass sie alles zurücklassen mussten und erst 13 Jahre später heimkamen. Thomas Mann hat sein Haus in Nidden nie wieder gesehen; es war fast zerstört worden. Es gehört nun Litauen und wird als Museum genutzt. Ich sah seine Fotos und Schriften. Sein Schreiben ist im Vergleich zu meinem maskulin. Mein Schreiben dagegen kommt mir feminin, hungrig vor im Vergleich. Es kam mir vor, als würde ich erneut einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte erspüren. Selbst hier, in einer Gegend, die mir überhaupt nicht deutsch vorkam, sah ich Spuren der deutschen Geschichte. Hätte es auf dem Plateau nicht angefangen zu regnen, hätten mich einheimische Frauen nicht zufällig mit dem Auto nach unten genommen, hätte ich das Thomas Mann-Haus verpasst.

So verpasste ich aber die letzte Fähre zurück aufs Festland. Es wurde bereits kühl. Als ich das Plateau der Sanddüne erklommen hatte, fing es bereits, kaum dass ich oben war, zu regnen an. Ich wusste nicht, wo ich übernachten sollte. Alles war geschlossen. In einem Cafe erzählte ich, was passiert war. Als erstes wurde an mir herumgezupft, ich bekam gegen meinen Willen eine Tasse Kaffee und einen schwarzen Tee nach dem anderen, und ich wusste, dass ich jetzt sowieso nicht mehr würde schlafen können. Schließlich fand sich ein nettes goldiges russisches Ehepaar, bei dem ich übernachtete. Dafür war ich sehr dankbar. Leider waren die Umstände für mich so, dass zuerst an Schlafen nicht zu denken war. Durch die Wand hörte ich lautes russisches Fernsehen, der Kaffee hielt mich wach, und es tickte eine Uhr laut und immer lauter in meinem Ohr. Eine tickende Uhr ist nachts für mich das Schlimmste. Sie wird immer lauter und rhythmischer. Schließlich begab ich mich auf Uhrenjagd. Kaum hatte ich eine von der Wand genommen und eliminiert, indem ich die Batterie herausnahm, hörte ich irgendwo eine andere. Schließlich hatte ich alle Uhren entfernt, der Fernseher schwieg und allmählich ließen der Kaffee und mein Heimweh nach, und ich schlief ein. Irgendwo in der Ferne hörte ich die rauschenden Wellen des Meeres und etwas Regen an meinem Fenster.
Nachts kann ich manchmal meine Hände fühlen. Ich spüre ganz deutlich, dass sie da sind, schwer wie Blei, obwohl sie klein sind. Besonders, wenn ich viel geübt habe.

Um 7 Uhr früh wollte ich nach dem Frühstück noch einmal auf die Sanddüne steigen und den Sonnenaufgang sehen, falls es einen gab, bevor ich mit dem Bus zurück nach Klaipeda und dann zurück nach Riga fuhr. Der russische Mann sprach etwas Deutsch. Er erzählte mir, seine Frau sei litauisch, und er selber habe keinen russischen Pass mehr. Um seine Geschwister in Kaliningrad zu besuchen, nicht weit von hier, müsse auch er ein Visum kaufen. Das fände es so absurd, dass er sich keines kaufen würde. Es sei auch zu teuer. Ich sagte ihm, er solle doch, um seine Familie zu sehen, wenigstens einmal im Jahr das Visum kaufen, auch wenn er es nicht gut fände (für mich kostet das Visum um die 70 Euro und ist einen Monat gültig). Aber egal, in wievielen Umschreibungen ich dies sagte, er ‘verstand’ plötzlich mein Deutsch nicht mehr. Ich sehe, dass das Zusammenleben von Russen und den Balten, so nah aufeinander, nicht leicht ist. Die Russen fühlen sich nur in Russland oder in ihrer russischen Familie zu hause. Und das russische System ist noch immer unsichtbar in der Luft. Auch ich muss manchmal daran denken, dass mein Vater in russischer Gefangenschaft war während des Krieges. Ich frage mich, obwohl ich wenig darüber weiß, ob das nicht unbewusst einen gewissen Widerwillen manchmal hervorruft in mir, selbst in mir, trotz meiner Sehnsucht und meiner Liebe der russischen Musik, der Opern und Ballette, der Texte, der Kunst, der Leidenschaft, der Geschichte Russlands. Kaliningrad war früher Ostpreußen und ist damit auch Teil ‘meiner deutschen Geschichte’, wenn auch so lange vor mir.

Meine Verwandten in Telsiai zu besuchen, ist für mich ein wichtiger Punkt meiner Reise.

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